Jenseits aller messbaren Zeit
Alles kehrt wieder, oder nicht? Der Rhythmus des Denkens und Schreibens, des inneren Erlebens, so mag mancher Leser das erzählerische Alterswerk von Peter Handke ansehen, bleibt sich gleich, möglicherweise. Der österreichische Autor hat nun ein monologisches Bühnenstück vorgelegt, das wiederum Motive der Liturgie aufnimmt, vertraute Fragen bedenkt und die literarische Reise fortsetzt, in der existenzielle Dimensionen ebenso sichtbar werden, die anhaltend beschäftigen und jenseits aller pragmatischen Lösung sich befinden. Handkes erzählerisches Ich ist außerstande, das „Übersehen“ zu lernen – und bleibt offen für Wahrnehmungen, Denk- und Erfahrungshorizonte, zugleich der Geschichte seiner selbst verhaftet.
Die „Obrigkeitlichen“ tauchen auf, die „Kontrolleure“, die überwachen und an „öffentlichen Orten“ präsent sind, aber blind bleiben für das „gestrige Nachtgebet“. Der Erzähler befindet sich auf Stadien, die niemand genau zu verfolgen weiß, denkt und sagt, was ihm in den Sinn kommt. Mancher könnte denken, dass er wie von Sinnen ist oder Sinnloses zueinander fügt, vieles, was in der sogenannten Wirklichkeit dieser Welt, praktisch geregelt, schlicht unverstanden bleibt. Es ist vielleicht auch gut, Geheimnisse zu bewahren, gleichzeitig sichtbar und unsichtbar zu sein, ohne sich verstecken zu müssen. Handke nimmt den Faden der katholischen Liturgie auf, memoriert das „Gloria im Lauf der Jahrhunderte“, nennt Komponisten, bis hin zu dem „Hallelujah“ von Leonard Cohen, ein „Widerspiel, wenn auch nicht in des Sängers Stimme“. Cohens Song ist ganz anders, auch wenn es in Kirchen heute bedenken- und gedankenlos angestimmt oder zu Gehör gebracht wird. Handkes erzählerisches Ich liest dieses Lied wie ein fernes Echo, das an den Ruf erinnert, aber für sich selbst steht, auch stehen kann. Man muss Cohen nicht verchristlichen oder dessen Musik vereinnahmen.
„Wo steht dein Haus?“ Eine gute Frage stellt sich, tut sich auf, jedem Menschen, der altert oder älter wird. Welches Obdach wird gewählt? Steht diese Wahl überhaupt an, steht sie uns Lesern zu? Der Begriff von Heimat und Zuhause reicht weit hinein ins Metaphysische oder weist auf ein Haus hin, das jene Atmosphäre schenkt, aber nicht für die Ewigkeit gebaut ist. Viele Menschen errichten Häuser, und immer sind sie auf Zeit errichtet. Wer ein Haus baut, findet darin Wohnstatt, verwächst damit, zieht manches Mal aus und kehrt bisweilen auch dorthin zurück. Die eigene Geschichte wird neu gegenwärtig, doch vielleicht anders als erinnert. Mancher erkennt das einstige Zuhause nicht wieder. Handke schreibt: „Wo steht dein Haus? Mein Haus, es steht im Freien.“ Umgeben von sattem Grün, so mag der Leser denken, befindet sich dieses Haus, nicht eingezwängt in Reih und Glied, sondern im Offenen. Der Schriftsteller zeichnet mitnichten ein Idyll, er wählt wiederum, zart und wissend, ein religiöses anmutendes Motiv: „Blau, die Farbe der Hoffnung – oder nicht eher das Grau?“ Über dieses Farbenspiel ließe sich sinnieren, über Rot, die Farbe der Liebe und des Martyriums, über Blau – und nicht das klassische Grün –, dem Handke nun zu einem Hoffnungszeichen zu erheben scheint. In der katholischen Kirche ist Blau die liturgische Farbe für die Hochfeste der Jungfrau und Gottesmutter Maria. Erzählend wird das nicht ausgeführt oder ausgedeutet, sondern neben das Blau tritt sogleich das Grau, als Zeichen für die säkulare Alltäglichkeit? Die Fragen bleiben, auch das Moment des Schwebens: „Ja, dem Himmel sind wir auserkoren, oder nicht?“ Wer weiß darauf zu antworten? Auch Handke schweigt dazu.
Der „letzte Fahrgast“ tritt auf, „zusammengekauert im allerletzten Nachtbus“. Wer hat ihn gesehen, vor einiger Zeit? Er ist mehr als eine Legende, ein Wanderer durch die Zeit, eine Gestalt aus einem Zwischenraum, in dem die Zeit nicht mehr gemessen werden kann: „Und jemand will ihn beobachtet haben beim Barfußgehen, und tags darauf aber in nagelneuen Schuhen, die knarrten, daß Gott erbarme, oder war das am Tag vorher gewesen?“ Wer sich an die Zeit binden will, bleibt hoffnungslos.
Handkes neues Werk endet mit einer Reminiszenz an den großen Erzähler Adalbert Stifter. Er bettet den Ausklang von dessen Erzählung „Der Hochwald“, erstmals 1842, dann in überarbeiteter Form 1844 publiziert, nahezu wortgenau in sein Werk ein, wenn er schreibt: „Und vorher, oder auch nachher noch, sah man ihn, wenn auch wie einen Schatten, ein ums andere Mal quer über die Steppe stolpern, aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging.“
Zwei Österreicher, Peter Handke und Adalbert Stifter, sensible, behutsame und leise Schriftsteller, sind hier einander auf den Pfaden der Literatur begegnet. Handke lüftet gewissermaßen seinen Hut vor Stifter. Diese geistige, literarische Verwandtschaft steht jenseits aller messbaren Zeit. Die treue Leserschaft beider wird sich in stiller Dankbarkeit und Demut respektvoll verneigen.

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