Die Ein-Staat-Lösung
Zu der 2008 ebenfalls bei Kunstmann erschienenen Autobiografie des palästinensischen Philosophen Sari Nusseibeh "Es war einmal ein Land" schrieb der jüdische Publizist Leon Wieseltier damals in der New York Times Book Review: "Ein zutiefst bewundernswertes Buch eines zutiefst bewundernswerten Mannes. Sari Nusseibehs herausragende Qualitäten, sein Entwurf eines liberalen Nationalismus, sein Eintreten für Gewaltlosigkeit inmitten des Terrors, seine Humanität in einem inhumanen Konflikt sind etwas, was einen verzweifeln lassen könnte, weil es so selten ist."
Und die deutsche ZEIT formulierte: "Sari Nusseibeh arbeitet Pläne aus, provoziert mit für unmöglich gehaltenen Konzepten und bleibt abseits von jeder Partei und jedem fixen ideologischen Standpunkt. Genau dies, die Frische der immer neu zu bestimmenden Wahrheit, macht seine Radikalität aus."
Es ist daher nicht zu erstaunlich, dass er mit seinen Vorschlägen und Gedanken vorzugsweise bei liberalen Juden in Israel und in der jüdischen Öffentlichkeit vor allem in den USA Gehör findet, jedoch bei seinen eigenen Landsleuten auf viel Skepsis stösst. Selbst früher den PLO-Leitungsgremien angehörend, sprach er sich während der zweite Intifada gegen die herrschende Meinung aus, begann Selbstmordattentate zu verurteilen und einen demilitarisierten palästinensischen Staat zu fordern.
Davon ist er in seinem neuen Buch abgerückt. Er glaubt nicht mehr an die Verwirklichung einer Zwei-Staaten-Lösung und lässt doch nicht los. Mit innovativen und radikalen Vorschlägen möchte er etwas für die Menschen in den besetzten Gebieten tun. Er lässt die Debatte der letzten Jahrzehnte um einen eigenen Staat für die Palästinenser Revue passieren und erteilt schlussendlich dieser Idee eine endgültige historische Absage. Man müsse sich, so sagt er, die existentiellen Fragen neu stellen, wenn ein historisches Projekt offensichtlich an sein Ende gelangt sei.
Er macht einen ernst gemeinten Vorschlag, dessen Realisierung er zwar für unmöglich hält, mit dessen Formulierung er aber Bewegung in eine absolut festgefahrene Debatte bringen möchte: "Als Gedankenexperiment möchte ich eine Maßnahme vorschlagen, die so anstößig ist, dass sie zu ihrer eigenen Aufhebung führen könnte (...) In diesem Sinne und als eine Möglichkeit , über den scheinbar nicht zu überwindenden Status Quo hinauszugelangen, schlage ich vor, dass Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser in dem so vergrößerten Staat Israel akzeptieren, dass dieser Staat jüdisch bleibt, und sie im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht politischen Rechte erhalten."
Es ist ein gewagtes Experiment, das mit Sicherheit von allen Seiten zunächst einmal in Bausch und Bogen verdammt werden wird. Das war früher mit intelligenten Vorschlägen schon so. Und doch ist oft etwas von der ursprünglichen Idee in den historischen Prozess durchgesickert und hat zu positiven Veränderungen geführt. In diesem Zusammenhängen könnte beispielsweise die 1965 erschienene "Ostdenkschrift der EKD" erwähnt werden, damals verrissen und was haben wir heute.
Auch Nusseibeh denkt in langen Zeiträumen. Mit seinem provokanten Buch möchte er aber jetzt die Debatte neu entfachen. Es ist bewundernswert, wie er seine gewaltfreie Hoffnung für eine mögliche "Zivilgesellschaft in Nahost" nicht aufgibt. Einen hohen Stellenwert räumt er der Bildung der palästinensischen Jugend ein. Er mahnt und hofft zugleich, wenn er am Ende seines Buches schreibt: "Woran es jedoch noch fehlt, eine Aufgabe, die noch bevorsteht, ist, die Menschen an ihre eigenen Kräfte zu erinnern: die Bildung zu einem Instrument zu machen, mit dessen Hilfe die palästinensische Jugend erkennt, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. Wie dies aussehen könnte, dass es auch tatsächlich geschieht und sich in der Konsequenz das palästinensische Schicksal, von Palästinensern gestaltet, zu entfalten beginnt - daran müssen die kommenden Generationen arbeiten"
Vielleicht wird man viel später einmal sagen, das hier vorliegende Buch habe damals eine entscheidende Weichenstellung im Denken über den alten Konflikt eingeleitet. Heftig umstritten sei es gewesen, habe aber endlich zu einem neuen Denken geführt. Und nun sei das gemeinsame Land zwar nicht mehr ohne Konflikte, wie auch, aber es herrsche so etwas wie Frieden und keiner schieße mehr auf den anderen. Utopie? Hoffentlich nicht.
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