Fliegen lernen durch Absturz ins Leere
"Ich bin nicht aufgewacht, aber ich zog mich aus dem Traum zurück. Und war eingesperrt in einem schlafenden Körper." In dem hier vorliegenden Sammelband, der die Original-Stories 29-31, 38-40 und 50 enthält, die allesamt Anfang der Neunziger erschienen, erzählt Neil Gaiman vom Wirken des Sandmans durch die Jahrhunderte und streift dabei allerhand historische Ereignisse und Persönlichkeiten. Neben seinem Lieblingsschriftsteller Shakespeare, dem er mit einigen Anspielungen huldigt ("Die muntere Komödie von der Erlösung des Doktor Faustus" von Christopher Marlowe), verwendet Gaiman auch Motive aus der realen Welt der Historie, zum Beispiel die Cäsaren oder den Thermidor der Französischen Revolution, aber auch Harun al Raschid ("Ramadan"), den Herren von Bagdad, der sich wünschte, seine perfekte Stadt würde die Jahrhunderte überdauern, damit sich jeder ihrer Schönheit gegenwärtig wähne und sie niemals untergehe. Doch um diesen Wunsch zu erfüllen, muss er sie unserem Sandman anvertrauen, der sie in eine Kugel packt und sie ins Reich der Träume mitnimmt.
Fliegen lernen durch Abstürzen
"Manchmal wacht man auf. Manchmal stirbt man durch den Sturz. Und manchmal lernt man fliegen", preist Todd gegenüber seiner Freundin Janet die Vorzüge des Träumens gegenüber dem Leben, denn er weiß, dass - wenn man erst einmal zu fliegen gelernt hat - es nur mehr darum geht, sich die Flügel nicht stutzen zu lassen. In "Drei September und ein Januar" erzählt Gaiman die Geschichte des letzten Kaisers von Amerika, Norton I., der in seinem Wahn glaubte, Mark Twain zu seinem persönlichen Geschichtenerzähler machen zu können und damit selbst den Edlen vom Eisenhut zu täuschen. Despair ("Verzweiflung"), die Schwester von Dream, beansprucht den Tom O’Bedlam, der im Regen in der Gosse stirbt, für sich, doch auch sie muss ihre Lektion lernen: Norton war nie verzweifelt, weil er seinen Traum, Kaiser von Amerika zu sein, lebte, against all odds. In "Thermidor", der dritten Geschichte, wird Dream selbst geköpft, aber nur um durch die Reihen der Republikanischen Garde zu kommen. Die Französische Revolution hatte selbst einen ihrer Wegbereiter, Thomas Paine, eingesperrt, aber auch hier, in diesem finsteren Zeitalter, hat Dream seine Aufgabe zu erfüllen.
Der Traum und die Krähe
Auch in "The Hunt" geht es eigentlich ums Geschichtenerzählen an sich, denn die Enkelin will lieber fernsehen, als ihren Opa von früher reden zu hören. Bis sie schließlich merkt, dass die Geschichte von Vassily, dem Gaje, und der alten Roma auch etwas mit ihr zu tun hat. Man sollte eben nicht dem Erzähler, sondern der Geschichte trauen, meint ihr Opa. "August" wiederum erzählt die Geschichte von einem Zwerg und dem Kaiser des Römischen Reiches, Augustus, die zusammen betteln gehen und über die Sieben Ewigen munkeln, "zu denen man nicht betet, die keine Götter sind, nie Menschen waren". Denn was Augustus nicht weiß: auch alle Götter entstehen im Reich von Dream. Aristeas von Marmora, die Krähe Matthew, die ihn immer begleitet, plaudert die Wahrheit aus, denn Dream ist kein Apollo, aber auch kein Dionysios, eher schon die Cäsaren, deren Initiationsriten sehr barbarisch erscheinen, wie das Ende der Geschichte Glauben machen will. Selbst Marco Polo ("Weiche Stellen") spielt eine Rolle in dieser Geschichtensammlung über Sandman aka Dream aka Morpheus aka Oreistos, denn auch die Griechen kannten ihn schon, wie die schöne und sehr traurige Geschichte von Orpheus und Eurydike zeigt. Der Weg durch die Wüste ist weit, aber noch weiter, der durch die Hölle, mit Eurydike unsichtbar im Rücken.
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