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Rudolph Delson: Die Notwendigkeit des Zufalls in Fragen der Liebe

Maynard and Jennica

Rudolph Delson, 1975 geboren, stammt aus dem kalifornischen San Jose, hat Jura studiert, lebt in Brooklyn und hat mit "Die Notwendigkeit des Zufalls in Fragen der Liebe" (im Original: Maynard and Jennica) seinen ersten Roman geschrieben: die spritzige und witzige, streckenweise etwas arg konstruierte Geschichte (die der Verlag im Klappentext aus unerfindlichen Gründen als "lebensecht verrückt" bezeichnet) von Maynard, einem erfolglosen Komponisten, und Jennica, einer Finanzanalystin.

Stil und Wortwahl des Autors sind flott, einfallsreich und rasant und klingen so:
"Mitten im Deli war ein Frühstücksbuffet. Viele verschiedene Gerichte, jedes isoliert wie Radium in einem tiefen Aluminiumbehälter, der in einem siedenden Wasserbehälter stand. Hundert Gerichte, ein einziger unheimlicher Geruch. Unheimlich deshalb, weil mittlerweile in jedem Deli in Manhattan derselbe Geruch hängt, eine Mischung aus Spülwasser und Barbecuesauce. In manchen Behältern steckten ein Löffel oder eine Servierzange, in anderen nicht. Wenn man zum Beispiel als zweites Frühstück Waffeln und Bananen essen wollte, musste man die Zange benutzen, die in dem Behälter mit den Würstchen steckte, um sich eine schlaffe Waffel zu nehmen, und mit dem Löffel für das Rührei nach Bauernart im Obstsalat nach Bananen fischen. Habe ich erwähnt, dass es auch Hähnchenflügel gab? Für ein Frühstück eher ungewöhnlich, aber da lagen sie, die Hähnchenflügel, in einer ölig roten und fettbraunen Sauce, sehr psychedelisch.
Franny ass zum Frühstück gedünstete Erdbeeren auf belgischen Waffeln, dazu in Ketchup ertränkte und bemerkenswert blasse Bratkartoffeln. Als sie versuchte, mit ihrer Plastikgabel eine der Erdbeeren aufzuspiessen, entschlüpfte ihr diese und brachte sich unter den Bratkartoffeln in Sicherheit. Aber Franny gab nicht auf. Sie verfolgte die Erdbeere mit ihrer Gabel, bis diese im Ketchup stecken blieb, und schliesslich gelang es ihr, sie aufzuspiessen und in den Mund zu stecken. Das war das Frühstück der Frau, die die Rechte an meinem Film kaufen wollte. Ich trank Kaffee."

Eine ganze Reihe von Personen kommen neben Maynard und Jennica in dieser Komödie zu Wort, mein Liebling unter ihnen ist die 1961 in Kasan geborene Ana Kaganowa, eine deutsch-russische Greencard-Ehefrau, die versucht, sich als Opfer des Angriffs vom 11. September 2001 auf die New Yorker Twin Towers auszugeben und damit Geld zu machen - das ist so überzeugend grotesk geschildet, dass dieses Werk eigentlich schon allein deshalb die Lektüre lohnt.

À propos 11. September: Wie der Autor diesen abhandelt (engagiert und gar nicht etwa "nebenbei", wie das der Verlag auf dem Umschlag behauptet) ist ungewöhnlich und erfrischend:
" ... eines Morgens erwachte ich und musste feststellen, dass ich nicht in Manhattan lebte, sondern in ... Amerika. Die New York Times verkündete hocherfreut den Tod der Ironie, was beinahe zutreffend war. Gestorben war nämlich jedes kritische Urteilsvermögen. Eine vollständige Vernichtung der kritischen Klasse, der Tod von Manhattans unamerikanischer Fähigkeit zu zweifeln (...) Es muss einfach eine Tragödie gewesen sein. Vergessen wir ganz einfach, dass wir imstande sind, eine Tragödie von einem Blutbad zu unterscheiden. Es muss eine Tragödie sein, weil wir so traurig sind! Und unser tragischer Fehler? Unser tragischer Fehler ist ... unsere Freiheit. Sie haben uns getötet, weil wir so frei sind. Die Feuerwehrmänner müssen Helden sein. Versucht nicht, zwischen Helden und denen, die einfach nur Pech hatten, zu unterscheiden. Es können nicht einfach irgendwelche Gewerkschaftsmitglieder gewesen sein, die den Befehl zur Evakuierung nicht gehört haben. Es können keine armen Teufel gewesen sein, denn 'als andere rausrannten, sind sie reingerannt.' (...) Die New York Times hat offenbar beschlossen, für jeden, der am 11. September 2011 ums Leben gekommen ist, einen Nachruf zu drucken. Für jeden einzelnen einzigartigen und unersetzlichen Menschen. Es dauert nun schon seit Wochen. Aber sie heissen nicht 'Nachrufe', diese Dinger, die die New York Times druckt. Sie heissen 'Porträts des Schmerzes'. Was ist ein 'Porträt des Schmerzes'? Ein Beitrag von hundertfünfzig bis zweihundert Worten, in dem mit den abgedroschensten Platituden die sakrosankte Einzigartigkeit dieser Aktienhändler, dieser Devisenmakler, dieser Börsenheinis besungen wird. Der hier war einzigartig, weil er ein so liebevoller Vater war! Das dürfen wir nie vergessen: ein liebevoller Vater! Die hier war einziartig, weil sie die anderen immer zum Lachen gebracht hat. Das dürfen wir nie vergessen: eine so witzige Frau. Sie sind allesamt tot und das ist so traurig! (...) Oh, Rache, Rache!"

Gut, dass das (und noch einiges mehr) einmal so geschrieben steht. Und ein Grund mehr, Romane zu lesen, denn in Zeitungen und Zeitschriften findet man solche Gedanken nicht (ich jedenfalls habe sie dort nicht angetroffen).


von Hans Durrer - 27. März 2011
Die Notwendigkeit des Zufalls in Fragen der Liebe
Rudolph Delson
Die Notwendigkeit des Zufalls in Fragen der Liebe

Nagel & Kimche 2007
392 Seiten, gebunden
EAN 978-3312003969