Roland Reuß: Ende der Hypnose

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Der Ausbruch des digitalen Zeitalters hat in der Gesellschaft eine Diskussion ausgelöst, die sich seit kurzem verstärkt auch im Buchmarkt niederschlägt. Frank Schirrmachers "Payback" sorgte 2009 für Aufsehen, da er die in der Fachwelt diskutierte Befürchtung publik machte, die Nutzer im Internet könnten durch die Algorithmen etwa der Suchmaschine gesteuert und so in ihrem Verhalten manipuliert werden. Der Verlust der Kontrolle im Umgang mit den digitalen Medien war das Thema einer längeren Debatte, die im Anschluss an die Buchveröffentlichung ausbrach.

In eine ähnliche Richtung geht das neue Buch des Tübinger Philologen Roland Reuß. Auf rund 130 Seiten rechnet er in der Form kleinerer Kapitel mit den Formen des unkritischen Medienumgangs ab. Kernthese ist, "Gleichbleibende Konzentration und anhaltende Aufmerksamkeit haben im Netz wegen [der] Kanalmischung keinen Platz. Aufmerksamkeit und Konzentration sind aber für die Auseinandersetzung mit den zentralen Problemen menschlichen Daseins unabdingbar." Dies wird anhand der zahlreichen und einschlägigen Beispiele von Google, Amazon, Facebook und Co. durchdekliniert.

Klar ist beispielsweise seine Analyse der Strategie Googles. Völlig frei von einer wirtschaftswissenschaftlich geprägten Sichtweise, die in den vielen Beiträgen zur Strategie Googles in der Vergangenheit meist die Überlegenheit des amerikanischen Suchmaschinenriesen thematisiert hat, leitet Reuß seine Beobachtungen mit dem Hinweis auf die vollkommen werbefreie, fast schon minimalistisch wirkende Startseite hin. Reuß deutet es als eine Verlogenheit, dass ein Werberiese im Netz mit einer völlig werbefreien Startseite die Nutzer täuscht. Allerdings das eigentlich "korrumpierende" an dem Dienst sei es, den Nutzern auf möglichst einfache und vor allem bequeme Weise die Inhalte zu strukturieren. Mit dem Aufbau eines Ökosystems an Diensten habe Google den User systematisch über seine Schwächen unterworfen und in das eigene Unternehmen eingespannt.

Der Ton des Buchs ist kühl, scharf und aphoristisch, weswegen in anderen Rezensionen oft eine Verbindung zwischen dem Werk von Reuß und der "Minimal Moralia" gezogen wurde. Auffallend oft zitiert Reuß nicht die Apologeten der neuen Medien sondern bezieht sich in seinen Ausführungen auf Dante und viele historische Bildungsvorbilder.

Eng ist die Grenze zwischen der von Reuß formulierten Kulturkritik und einer möglichen, kulturpessimistischen Lesart. Viele seiner Thesen sind dazu geeignet, auf einfache Formeln gebracht zu werden und in ein dualistisches Weltbild mit einer klaren Distinktion zwischen der guten alten (Buch-)Welt und der neuen Medienwelt. Dagegen aber, und für das genaue Lesen der flüssigen Kapitel, spricht aber der Text selbst. In dem 16. Abschnitt setzt sich Reuß unter anderem mit der Frage auseinander, ob die Ausbreitung des Netzes mit der medialen Revolution des Buchdrucks vergleichbar ist, auseinander. Im Rückgriff auf Elisabeth Eisensteins wichtige Studie zur Ausbreitung des Buchdrucks. Das Buch ist die ideale Grundlage für eine Vielzahl von Inhalten. Auch die Webseite ist genauso geeignet, ein breites Inhaltsspektrum aufzunehmen. Der Unterschied besteht darin, dass die gedruckte Seite die Aufmerksamkeit länger fesseln kann als der in einer Hypertextstruktur codierte Text. Webseiten bilden grundsätzlich ein Gerüst aus Verweisen auf andere Fundstellen und der Link - so die Kritik Reuß" - ist der Hauptgrund für die fragmentierte Konzentration im Netz.

Wichtig ist seine klare Distinktion. Es ist nicht egal, in welchem Medium ein Text, andere sprechen auch von Inhalt oder Content, veröffentlicht ist. Jedes Medium hat eigene Bedingungen und versetzt den Nutzer in eine andere Rezeptionssituation. Kritisch anmerken kann man, dass auch heute, gut dreißig Jahre nach der Einführung des Computers und seinem Siegeszug in den Haushalten sich (noch) nicht die vollkommene Medienkompetenz im Umgang mit digitalen Medien ausgebildet hat. Um auf die Analogie mit dem Buchdruck zurückzukommen: auch die ersten Drucke Gutenbergs und seiner Zeitgenossen ahmten in der Gestaltung die typografischen Konventionen der Handschriften nach. Bis mit dem Aufnahme anderer (zunächst hauptsächlich juristischer Inhalte wie dem Corpus iuris civilis) in das neue Medium herrschte die Konvention für das langsame, laute und vor allem lineare Lesen vor. Vielleicht stehen wir heute an dem Punkt, in dem sich neue Rezeptionsweisen mit den neuen Medien erst herausbilden und die vor allem junge Generationen der Mediennutzer für sich ein breiteres Set an Lesarten entwickeln.

Das Buch geht kurz nach dem Erscheinen im September 2012 bereits in die dritte Auflage. Zu erkennen ist dies nach Angaben des Verlags an den verschiedenfarbigen Vorsatzpapieren. Ein klares Zeichen für die Wichtigkeit dieser kleinen und gut zu lesenden Debattenbeitrags.

Ende der Hypnose
Ende der Hypnose
Vom Netz und zum Buch
128 Seiten, broschiert
Stroemfeld 2012
EAN 978-3866001411

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