Unwissend beobachten
Nicht selten ist zeitgenössische deutschsprachige Lyrik apolitisch und intellektuell, fokussiert auf exquisite Formulierungen und Sprachatmosphäre. Dies ist keine Kritik. Zuerst stellt sich nämlich die Frage, was man von Gedichten überhaupt erwartet und wie man damit «arbeiten» und «leben» möchte. Auch die «Regentonnenvariationen» von Jan Wagner sind sprachstark und kompliziert. Seine Gedichte sind folglich oftmals der Gefahr ausgesetzt, dass Sprachspiele nicht gelingen und die Zeilen sodann inhaltsleer wirken - dies ist beim deutschen Lyriker allerdings nur selten der Fall.
Der zweite Teil dieses Bandes verdeutlicht, wie wichtig gerade bei solch sprachbetonten Gedichten der Satz ist. Präzis und auf jedes Gedicht angepasst, teilweise im Blocksatz, manchmal mit künstlich evozierten Silbentrennungen, dann wieder bewusst im Flattersatz, luftig und mit formgebenden Varianten. In den guten Momenten werden diese formstarken Gedichte dann zu einer Ode an die deutsche Sprache. Deren Schönheit wird sauber und fleissig herauskristallisiert. Gerade Gedichte könnten ja der Ort sein, um die vielen existierenden Sprachen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit immer wieder zu zelebrieren, auch alte Worte und Begriffe wiederzubeleben, wie das des Öfteren gelingt.
Am Gedicht «Nach Canaletto» (Seite 44) lässt sich gut aufzeigen, was Wagners Gedicht sein können: Sagenhafte, dichte Orts-Atmosphäre (hier: mäandernd-erinnernde Kunst- und Personenschilderung), phänomenale Sprachkunst und präzise Beschreibung eines Menschen (anna), eines Gegenstandes (versuch über servietten), einer Pflanze (giersch) oder eines Ortes oder der Erinnerung daran (sarajewo). Seltener ist es die Beschreibung eines Gefühls oder eines konkreten Ereignisses. In den Gedichten bleibt stets eine gewisse Distanz und Unklarheit; Emotionen und Beziehungen sind nur ansatzweise zu erkennen, nie aber klar als Narrative zu verstehen.
Und dann fragt man sich: Wie würde dieser Sprachkünstler Wagner wohl konkret über Politik, Alltag oder die Liebe dichten? Warum tut er - der Sprachmächtige - dies nicht öfters? Vieles kommt in seinen Gedichten auch einfach verschlüsselt und abstrahiert vor, sodass man es leicht übersehen könnte. Sinnbildlich dafür das Gedicht «Grottenolm» ab Seite 73, das von der Beschreibung eines nur scheinbaren Fabeltiers im Karst in Kriegserinnerung transzendiert, aber auch hier bleiben die Aussagen zum Krieg vage und offen. Nicht ist immer ist klar, was die Botschaft Wagners Zeilen ist und wie stark sich zwischen den Zeilen etwas hervortut, was die Bedeutung der aneinandergereihten einzelnen Wörter übersteigt.
Festzuhalten gilt: Es gibt keine Gross- und Kleinschreibung in Wagners Gedichten. Hier verzichtet der Autor auf ein typisches Element der deutschen Sprache, um dichtere Abschnitte zu erzeugen: Seine Sprache ist eine Molasse, die aneinanderklebt und nicht durch so etwas Ostentativ-Grobes wie Majuskeln gestört werden darf. Solche Eingriffe in die Rechtschreibung können noch weitergehen, dann nämlich wenn aus McEnroe aus lautlich-visuellen Gründen mäckenroh wird. Nicht immer gelingen solche Ballspiele. Auch über einen Abschnitt hinweg getrennte Worte können teilweise etwas zu viel des Guten sein. Und bezüglich Konsequenz könnte man sich bei besagtem Tennisgedicht fragen, warum der volley dann nicht zum wolli wird.
Die Teile IV & V erfordern noch mehr Durchsicht in scheinbar kryptische Zusammenhänge. «Ficus watkinsiana» oder «auf neuseelands wind» ziehen davon wie eine sanfte Brise, vergänglich und unmöglich, sie einzufangen. Die schöne Sprache motiviert den Leser dabei, die Inhalte zu ergründen und die Texte mehrfach zu lesen - das ist der Basis-Mechanismus, der funktionieren muss.
Als Ganzes kann man die «Regentonnenvariationen» aber auch als Führer für seltene und vergessene Pflanzen und Tiere ansehen. Einem Bestimmungsbuch ähnlich, kann man immer wieder damit arbeiten, gespannt auf Beobachtungen, die faszinierend und nicht rundum geklärt sind. Etwas Verwunschenes bleibt.
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