Erzählfäden des Lebens
Rebecca Solnits "Aus der nahen Ferne" ist ein ganz wunderbares Buch über das Geschichten-Erzählen. Alles liege im Erzählen, meint die Autorin, denn ohne Erzählen hiesse ohne Geschichte zu sein und "sich in der ungeheuren Weite der Welt zu verlieren".
Die Geschichten in diesem exzellent geschriebenen Band handeln von Aprikosen, der Alzheimer-Krankheit der Mutter, Che Guevara und Alberto Granado, einem Aufenthalt in Island, Lepra, dem Umgang mit der Diagnose Krebs und und und ... Dabei ist Solnits Schreiben immer und vor allem grundsätzlicher Art: es geht ihr um Klärung und Orientierung ("Geschichten sind Kompass und Architektur, wir orientieren uns an ihnen, wir bauen unseren Glauben und unser Gefängnis aus ihnen ...") und darum, dass uns Geschichten verbinden.
Ganz Unterschiedliches ist Rebecca Solnit Anlass über das Leben nachzudenken (und davon handeln ihre Geschichten), unter anderem Mary Shelleys Frankenstein über den sie festhält: "Frankenstein ist fasziniert vom Entstehungsprozess des Monsters und legt all sein Engagement hinein, sorgt sich aber dann nicht um seine tatsächliche Existenz." So überzeugend auf den Punkt gebracht, habe ich das bisher noch nicht gelesen.
Ich lese "Aus der nahen Ferne" in erster Linie als eindrückliches Dokument der Selbst-Wahrnehmung und der persönlichen Entwicklung, das zur Identifikation einlädt. Ich jedenfalls habe mich bestens mit einem Satz wie diesem (und es gibt einige davon in diesem Buch) identifizieren können: "Hätte ich früher über sie (die Mutter) geschrieben, wäre daraus eine Gerichtsverhandlung geworden, wurde ich doch nach der Logik von Argumenten und Tatsachen und des Rechthabens erzogen, nicht danach, was vielleicht Liebe sein könnte und einen Schritt weiter ginge."
Rebecca Solnit ist nicht nur eine ausgezeichnete Erzählerin, sie ist eine ebenso ausgezeichnete Denkerin. "... uns, die wir in einer Kultur leben, in der Menschen sterben, wenn sie grundlos Berge erklimmen, oder töten wegen Worten, die sie oder ihre Götter beleidigen, und in der diejenigen geehrt werden, denen irgendeine komische Jury einen Preis verliehen hat oder die aufgrund einer Kombination bestimmter Faktoren den Ball in ein Netz oder über ein Netz hinwegschiessen." Dass mich diese wohlformulierten Gedanken (und es finden sich viele davon in diesem Werk) so anziehen, liegt natürlich auch daran, dass die Kombination der hier geschilderten Situationen willkürlicher kaum sein könnte und damit die Willkür unserer kulturellen Vereinbarungen treffend illustriert. Und es gibt noch einen weiteren Grund: ich wundere mich schon mein Leben lang darüber, dass Jurys, die Preise verleihen, ernst genommen werden können, weswegen mich die Formulierung "irgendeine komische Jury" richtiggehend begeistert.
Der Titel des Buches geht auf Georgia O'Keeffe zurück, die aus dem ländlichen New Mexico Briefe an ihre Lieben mit den Worten "aus der nahen Ferne" versandte. Und wie lange Briefe kommen einem Rebecca Solnits Geschichten vor: sie teilt ihre Erfahrungen und Reflexionen, die, auch wenn sie privater Natur sind, immer über das Private hinausgehen und in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden. Hier wird keine Nabelschau betrieben, sondern sich (und die, mit denen sie in Kontakt kommt) in einem grösseren Ganzen situiert, im Bewusstsein (und dem Benennen) der Zufälligkeiten, die unser Leben bestimmen.
"Aus der nahen Ferne" ist eines dieser raren Bücher, das einem aufzeigt, wie wichtig, notwendig und heilsam das Teilen von Geschichten ist. Und manchmal lebensrettend. In einer Radiosendung über Blues sprach der Musiker Charlie Musselwhite davon, wie er aufhörte, sich zu Tode zu saufen. Im Jahre 1987 fiel in Midland, Texas, die zweijährige Jessica McClure in einen Brunnen, wo sie Kinderlieder sang. Rund um die Uhr berichteten die Medien von der Rettungsaktion. Musselwhite, im Auto auf dem Weg zur Arbeit, hörte davon im Radio. Und er dachte sich: "Mensch, meine Probleme sind vielleicht klein gegen ihre. Warum kann ich denn nicht halb so tapfer sein wie sie? Ich dachte: Das ist es. Bis sie rauskommt, werde ich mir keinen Drink mehr genehmigen. Es war so eine Art Gebet für sie von mir. Und als sie es schafften, sie da rauszuholen, da hatte ich es auch geschafft."

Über Imperien in Syrien-Palästina
Diese ebenso reichhaltige wie umfangreiche Studie ist die erste Monographie, die sich schwerpunktmäßig mit der ptolemäischen Herrschaftszeit in Syrien-Palästina befasst. Ein in jeder Weise herausragendes Buch.
Imperialer Wandel und ptolemäischer Imperialismus in SyrienÜber die Zeit
Lars Gustafsson reist mit lyrischer Musikalität auf den Spuren von Johann Sebastian Bach, nur sehr viel sanfter als der Leipziger Thomaskantor, nicht mit revolutionärer Kraft, aber mit einer vergleichbaren Sensibilität.
Variationen über ein Thema von SilfverstolpeKeine gute Zeit für Freihandel und was das für uns bedeutet
Angesichts der jüngsten neoimperialistischen Reflexe der „technologisch-industriellen Oligarchie“ in den USA und des von Corporate America unter Trump angekündigten Zoll-Tsunamis ist das vorliegende Werk zum richtigen Zeitpunkt erschienen.
Der Freihandel hat fertigEin „extrem aesthetizistisches Werk“, und das „auf eine negative Art“
Heinrich Manns Roman "Der Untertan" schildert in Diederich Heßling einen der wohl widerlichsten Protagonisten der Weltliteratur.
Der UntertanEin Mann, der nach Vergebung sucht, muss einen weiten Weg gehen
Leon de Winter hat sich in seinem ersten neuen Roman seit "Geronimo" (2016), "Stadt der Hunde", viel vorgenommen: Metaphysik, Mystik und Medizin.
Stadt der HundeJenseits aller messbaren Zeit
Peter Handke und Adalbert Stifter, sensible, behutsame und leise Schriftsteller, begegnen hier einander auf den Pfaden der Literatur. Handke lüftet gewissermaßen seinen Hut vor Stifter.
Schnee von gestern, Schnee von morgen