Unsere Mutter Erde
Surreal wirkt die Szenerie, die der britische Fotograf Nadav Kander am chinesischen Jangste, dem längsten Fluss Asiens, eingefangen hat. In einer geradezu trügerischen Idylle sitzt eine Gruppe junger Chinesen unter den tragenden Pfeilern einer Schnellbahn rund um einen Tisch. Der Untergrund, auf dem sie sich niedergelassen haben, besteht aus Geröll und Plastikmüll. Dennoch sitzen sie sich entspannt, ja fast freudig erregt gegenüber, als befänden sie sich inmitten grüner Natur. Keine drei Meter neben ihnen fließt nicht nur der größte, sondern auch einer der dreckigsten Flüsse Asiens. Nebel steigt aus dem zähfließenden, quecksilbrig schimmernden Gewässer auf, so dass sich selbst dessen drohende Gefahr in einer geradezu märchenhaften Szenerie auflöst. Die Szene erweckt den Eindruck, als würden die jungen Chinesen die Ruhe ihres Rückzugsortes genießen. Doch sie sind mitnichten allein. Vom Fluss wohnt ein Fischer der Intimität ihres Beisammenseins bei. Und schaut man genau hin, sieht man in der Tiefe des Bildes noch einige andere Personen, die sich ihr Leben unter der Schnellstraße eingerichtet haben.
Bei der Szene handelt es sich um das Titelbild des Katalogs zum diesjährigen Prix Pictet. Zum zweiten Mal wurde der von einer Schweizer Privatbank gestiftete Fotografiepreis zum Thema Nachhaltigkeit in Höhe von 100.000 Franken vergeben. Der Preis soll Fotografen auszeichnen, die sich in ihren Arbeiten Umweltthemen zuwenden. Im vergangenen Jahr stand das Thema Wasser im Vordergrund und der Kanadier Benoit Aquin gewann mit seinen beeindruckenden Bildern aus China und der Mongolei, wo Wasser ein seltenes und wertvolles Gut ist. Sein Mangel hat dort in den vergangenen Jahrzehnten ein riesiges Areal von 400.000 Quadratkilometern in eine wüste Einöde aus Staub und Dreck verwandelt. Aquins Fotografien dokumentierten diesen lebensfeindlichen Ort.
Der nun vorliegende Katalog präsentiert die zwölf Fotografen, die beim diesjährigen Wettbewerb in die Endauswahl aufgenommen wurden. Dafür hatten sich immerhin mehr als 300 Fotografen beworben und ihre Fotos zum Thema Erde eingereicht. Die letzten zwölf Auserwählten gehören zu den internationalen Granden der Dokumentationsfotografie. Neben dem bereits erwähnten Nadav Kander sind dies u.a. der Kanadier Edward Burtynsky mit imponierenden Bildern aus verschiedenen Marmorminen in Portugal, Spanien, Italien, Indien und den USA. Oder der amerikanische Fotograf Ed Kashi, dessen Fotografien aus Nigeria eine Gesellschaft im Bann des schwarzen Golds zeigt. Der Iraner Abbas Kowsari beeindruckt mit Fotografien aus seiner Heimat. Sie zeigen die sog. "Karawane des Lichts", einen iranischen Trauerzug, in den sich Jahr für Jahr tausende Iraner einreihen und an die Kriegsschauplätze des Iran-Irakischen Krieges fahren, um dort ihre gefallenen Angehörigen zu betrauern. Experimentell und zugleich mit der Harmonie klassischer fernöstlicher Zeichner ging der Chinese Yao Lu vor, der seine Aufnahmen von mit einem grünem Netzstoff verdeckten Müllbergen grafisch bearbeitete, so dass sie wie Tuschezeichnungen aus längst vergangenen Dynastien wirken. Der Deutsche Andreas Gursky bewarb sich mit der Großaufnahme einer gigantischen mexikanischen Mülldeponie. Der kanadische Fotograf Christopher Anderson provoziert mit seinen scharfkantigen Schwarz-Weiß-Fotografien, die die Beziehungen zwischen Politik, Wirtschaft und Konsum als einen vom Menschen gemachten Raubbau an seinen Lebensgrundlagen entlarven. Der Kongolese Sammy Baloji brachte in seinen Bildern das industrielle und koloniale Erbe seiner Heimat geschickt auf den Punkt. Naoya Hatakeyama aus Japan zeigt deutlich, wie rücksichtslos der Mensch mit seiner Umwelt umgeht und welch betonierte Tristesse er dann hinterlässt. Der Portugiese Edgar Martins dokumentierte die Folgen der Waldbrände in seiner Heimat. Den Triumph der irdischen Wunder präsentierten die Briten Chris Steele Perkins und Darren Almond. Während letzterer mit seinen Langzeitbelichtungen malerischer chinesischer Landschaften beeindruckt, sorgt erster mit seinen Bildern der japanischen Ikone, dem Mount Fuji, für Aufsehen.
Gewonnen hat den diesjährigen Wettbewerb der in Israel geborene Nadav Kander. Seine Bilder vom Gelben Fluss, die in metaphorischer Übertragung von der ständigen Veränderung erzählen, haben die größte Beachtung in der Jury gefunden. Sie sind auch das Dokument des rücksichtslosen Wirtschaftswachstums des gelben Riesen, dessen politische Verantwortungsträger auf ihre Bevölkerung dabei keine Rücksicht nehmen. Einer der Chinesen, auf die Kander während seiner Arbeiten traf, stellte dem Briten eine einfache und doch kaum zufrieden stellend zu beantwortende Frage: "Warum müssen wir erst zerstören, um uns zu entwickeln?" Kander fand darauf keine Antwort. Aber es wurde ihm eines dabei bewusst: Während er selbst noch an die Orte seiner Kindheit zurückkehren konnte, ist dies den meisten Chinesen unmöglich, denn das rasante Wachstum hat kaum einen Winkel des Landes unberührt gelassen und für immer bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Und so löst sich die Idylle des Titelbildes bei genauer Betrachtung in Schrecken auf. Es ist das Dokument einer erzwungenen Anpassung, einer Notlage, aus der es keinen Ausweg gibt. Das scheinbare Picknick ähnelt so eher einer Henkersmahlzeit, die sich womöglich unendlich oft wiederholt. In einer solchen Situation wächst Hoffnungslosigkeit und Wut - über die Zerstörung des eigenen Lebensraums. Dieser Zustand ist eine Provokation und reizt selbst zu einer solchen. Diese Provokation hat auch den Weg auf Kanders Aufnahme gefunden. In dem jungen Chinesen, der etwas abseits von der Tischrunde dem Fotografen direkt in die Kamera schaut. Als wollte er sagen: "Schau genau hin! Das ist das Leben, welches der Mensch sich selbst bereitet." Und man denkt zwangsweise an die sekündlich stattfindende, stetige Zerstörung der Erde.
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