Die unheimliche Macht der Sprache
Der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll war weder ein Sprachphilosoph noch ein Neuro- oder Kognitionswissenschaftler. Über Sprache dachte er gleichwohl nach und sagte, ernüchtert beschreibend wie pointiert: "Worte heilen, Worte töten." Bölls Wort stammt aus einer Zeit, in der Begriffe wie "Framing", in Gesellschaft und Politik, noch unbekannt waren. Die Medienwelt wirkte, von heute aus gesehen, übersichtlich, vom Boulevardblatt über Nachrichtenmagazine bis hin zu den Fernsehprogrammen. Von "Fake News" war ebenso wenig die Rede wie von "Political Correctness" oder von einer Steuerung der Denkprozesse durch eine spezifische Form von Rhetorik, die von der Linguistin Elisabeth Wehling, zugleich Kognitionswissenschaftlerin und Politikberaterin in den USA und Europa in diesem Band anschaulich vorgestellt wird.
Besondere Anschaulichkeit kommt scheinbar Metaphern zu, die in den Sprachgebrauch heute Einzug gehalten haben und allgegenwärtig zu sein scheinen. Michel Foucault bereits dachte über eine solche Begründung von Diskursen nach. Wer aber ein aktuelles Beispiel sucht – eine Art metaphorisches Wieselwort –, der mag an den silbenreichen Begriff Desoxyribonukleinsäure denken. Niemand außer halb der Molekulargenetik würde dieses Wort nun ungeniert in der Alltagssprache verwenden. Aber aufmerksame Zeitgenossen hören in letzter Zeit einiges darüber. Politiker sprechen von der "DNA der SPD", Bürgerinitiativen von der "DNA des Stadtteils" – Obergiesing ist eben nicht Untergiesing. Der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer erregte Aufsehen und Begeisterung sowie begründeten Widerspruch, als er behauptete, dass Machtmissbrauch in die "DNA der Kirche" eingeschrieben sei. Hätte er gesagt – in die "Desoxyribonukleinsäure der Kirche" –, so wäre die Resonanz vielleicht anders ausgefallen. Wenn die Fußballsaison beginnt, wird sich zeigen, ob die Neuzugänge sich auch der "DNA von Bayern München" verbunden wissen. Was anschaulich gemeint ist, kann gänzlich anschauungslos sein. Begriffe mögen – wie "DNA der Kirche" etwa – bloße Wortfügungen und sogar sinnwidrig sein, aber sie bestimmen, effektvoll eingesetzt, und beeinflussen die Wahrnehmung dessen, was Wirklichkeit ist. Mit erfindungsreichen Zuschreibungen werden Deutungen präsentiert und vorgelegt, beständig wiederholt und variiert. Elisabeth Wehling schreibt: "Sprache hat einen immensen Einfluss auf unsere Wahrnehmung. Sie kann der Dreh- und Wendepunkt unseres Denkens und Handelns sein. Sprache bestimmt, wie wir unsere Umgebung und andere Menschen wahrnehmen, und mit welcher Leichtigkeit Informationen und Fakten von unserem Gehirn registriert werden." Hinzu tritt aber ein weiteres Phänomen: Fakten können Deutungen zugewiesen werden, die für emotionale Reaktionen sorgen. Fakten können in beliebiger Weise systematisch geordnet und neu sortiert werden. Kausalitäten werden behauptet. Öffentlich verbreitete Deutungsmuster entstehen, mit denen Tatsachen verallgemeinernd interpretiert werden: "In einzelnen Worten und Sätzen verbirgt sich immer – und zwar wirklich immer! – mehr an Bedeutung, als zunächst mit bloßem Auge erkennbar ist. Wenn es gilt, Worte oder Ideen zu begreifen, so aktiviert das Gehirn einen Deutungsrahmen, in der kognitiven Wissenschaft Frame genannt. Inhalt und Struktur eines Frames, also die jeweilige Frame-Semantik, speisen sich aus unseren Erfahrungen mit der Welt." Wehling meint, dass letztlich die alltäglichen sozialen, ökonomischen und politischen Entscheidungen nicht faktenbezogen erfolgen würden: "Frames, nicht Fakten, bedingen unser Entscheidungsverhalten." Die Meinungsbildung beruhe nie auf der "reinen Faktenlage", die Frames "dominieren allgemein das Denken".
Laut der Autorin sei es unvermeidlich, Metaphern zu nutzen. Diese seien "selektiv", aber man müsse sie bewusst einsetzen: "Unser Gehirn schreibt der Welt in weitreichendem Umfang über Metaphern ihre Bedeutung zu." Ein Akteur müsse auf die Metaphern verzichten, die seine spezifische "Wahrnehmung der Welt" nicht abbilden. Das setzt natürlich Selbstreflexion voraus. Für den "demokratischen Diskurs" sei der verantwortete Gebrauch von Metaphern elementar wichtig. Indessen können "konzeptuelle Metaphern" aber auch als eine Art "semantisches Zauberserum" erscheinen. Die "metaphorischen Frames" können in ihrer "Abbildung der Realität selektiv", sogar "verfälschend" sein, und "»fehlerhafte« Schlussfolgerungen über eine Sache implizieren" – oder zumindest mehr Probleme schaffen als lösen, wie das Beispiel der DNA oben gezeigt hat, weil nämlich durch die Verwendung eines Begriffs Folgeerscheinungen entstehen können, die der wortbildnerisch tätige Akteur vielleicht weder gemeint noch gewollt hat.
Elisabeth Wehling denkt auch über Selbstverwirklichung und den individuellen Erfolg nach. Wir denken an die alte Wendung, dass jeder Mensch des Glückes Schmied sei, auch für den eigenen Wohlstand verantwortlich – und der Glaube daran ist ungebrochen. Das gelte, so Wehling, für sogenannte Karrieren in jeglichen Bereichen, ob in der Wissenschaft oder in der Ökonomie: "Der Frame blendet aus, dass menschliche Stärke, Willenskraft, Leistungsfreude und Disziplin in unserer Gesellschaft keinesfalls automatisch zu Geld und Prestige führen. Und er blendet die systemischen Ursachen solcher Erfolge oder Nicht-Erfolge aus, denn er suggeriert, dass man »ganz alleine« für seinen Erfolg oder Misserfolg verantwortlich ist. Das stimmt so natürlich nicht, denn Erfolg und Misserfolg sind immer zu großen Teilen systemisch bedingt." Hinzugefügt sei: Auch wer den Kontext leugnet, in dem er lebt, bleibt an diesen gebunden und von diesem geprägt.
Elisabeth Wehling beschreibt eine ganze Reihe von aktuellen Beispielen des zeitgenössischen politischen Diskurses. Sie legt die Wirkmacht von Metaphern, zeigt und analysiert auch Wertungen und Wertvorstellungen. Abschließend heißt es: "Frames haben einen ideologisch selektiven Charakter. Sie bewerten und interpretieren gesellschaftliche und politische Gegebenheiten aus einer bestimmten Weltsicht heraus. Und sind sie erst einmal über Sprache in unseren Köpfen aktiviert, leiten sie unser Denken und Handeln an – und zwar zumeist ohne dass wir es bemerken. … Die sprachliche Wiederholung von Frames – egal, ob sie verneint oder bejaht werden – stärkt diese in unseren Köpfen und lässt sie zunehmend zum gesellschaftlichen und politischen Common Sense werden." Ein begründeter Zweifel scheint angebracht zu sein. Ungeachtet der zugestandenen Wirkmacht von fantasievoll konstruierten Metaphern und Frames, die Wehling kenntnisreich und überzeugend herausarbeitet, können wir über konstruktivistische Fantasien lange und ohne Ertrag diskutieren: Ein gebrochenes Bein bleibt ein gebrochenes Bein, wir können das subjektiv abstreiten und Medizin eine Weltanschauung nennen. Trotzdem werden wir uns keinen Schritt mehr bewegen können. Wir können ebenso ohne jedes molekulargenetische Verständnis über die DNA sibyllinisch kommunizieren und beherzt räsonieren. Die Kritik der Sprache und des Sprachgebrauchs bleibt eine wichtige Aufgabe des philosophischen und politischen Denkens. Das anschaulich verfasste Buch von Elisabeth Wehling verdient eine breite Rezeption und Diskussion. Wir müssen heute – gerade in der digitalen Welt – über Sprache im Gespräch bleiben. Worte können, wie Heinrich Böll sagte, heilen und töten, und sie können auch anschauungslos und trotzdem wirkmächtig sein. Die Aufklärung über den Wirklichkeitsbezug von Sprache ist unverzichtbar.
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