Die Unabänderlichkeit der Vergangenheit
"Place de la Bastille" vom niederländischen Autor Leon de Winter ist erst 2005 bei Diogenes und 2006 als Hörbuch beim Deutschen Audio Verlag erschienen, obwohl der Roman bereits 1981 auf Holländisch herausgekommen ist. Er ist somit ein Frühwerk des Autors. Doch die zentralen Themen, die de Winter in fast all seinen Werken berührt, sind bereits hier erkennbar wie beispielsweise die Identitätssuche der Holocaust-Opfer.
Paul de Wit ist Geschichtslehrer und hasst seinen Beruf, weil er komplexe Sachverhalte simplifizieren, auf bloße Zahlen und "herausragende" Ereignisse reduzieren muss. Denn nur diese sind im Lehrplan gefordert und nicht Geschichtsverständnis als Resultat differenzierter Auseinandersetzung mit einer langen Folge von kleinsten Geschehnissen die letztendlich zu großen Umwälzungen führen.
Doch nicht nur sein Beruf gibt ihm nicht die gewünschte Befriedigung. Eine große Leere und gleichzeitig Unruhe erfüllt ihn und treibt ihn aus dem Bett. Dabei ist er sich bewusst, dass er auf einen physischen und psychischen Kollaps zusteuert. Doch diese Aussicht erscheint ihm verlockender als sich mit seinem Leben, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft auseinander zu setzen. Und wenn ihn doch einmal seine Gedanken nicht schlafen lassen, setzt er sich nächtelang vor das TV-Gerät oder schaut sich aufgezeichnete TV-Sendungen an.
Keine endlosen Zeitschleifen
Genauso wie sich sein Leben in einer Endlosschleife befindet, ist er nicht in der Lage, sein bereits während seiner Studientage begonnenes Buch über Ludwig XVI und dessen gescheiterter Flucht nach Varennes zu Ende zu schreiben. Seine verständnisvolle Frau drängt ihn, während der Schulferien eine Studienreise nach Paris zu unternehmen, um sein Buch endlich zu vollenden.
In Paris lernt Paul Pauline kennen, eine bildhübsche junge französische Jüdin, welche in dem Hotel arbeitet, in dem er abgestiegen ist. Die beiden beginnen eine leidenschaftliche Affäre, treffen sich heimlich und beginnen eine intensive Korrespondenz. Bei einem dieser Treffen macht Paul auf der Place de la Bastille Photos von Pauline. Zurück zu Hause stellt er beim Betrachten dieser Bilder fest, dass hinter Pauline ein Mann zu sehen ist, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Kann dies sein tot geglaubter Zwillingsbruder sein?
Leon de Winter erzählt mittels Pauls Rückblenden und Gedankenreflexionen die Hintergründe, die zum jetzigen Status Quo einer Midlife-Crisis geführt haben. Pauls Suche nach den Gründen, warum gerade er die Tötungsmaschinerie des Dritten Reiches überlebt hat, der sein Bruder und seine Eltern zum Opfer fielen, fallen zusammen mit seinen Überlegungen, wie wohl die französische Geschichte verlaufen wäre, wenn die Flucht Ludwig XVI gelungen wäre. Dabei sind jedoch so viele Unwägbarkeiten zu berücksichtigen, dass ein solcher Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Doch damit kann und will sich Paul nicht zufrieden geben. Leon de Winters berührender Roman über die Suche eines Mannes nach seinem Bruder, nach Geborgenheit, Ruhe und dem Schoss einer Familie, nach dem Sinn des Lebens nach dem Überleben, erzählt er in zyklisch wiederkehrenden Bilder bedrückender Schönheit. In schlichten, aber eindringlichen Worten bringt er dem Leser die Ausweglosigkeit der Situation nahe, ohne dabei als Erzähler die Distanz zu seinem Protagonisten zu verlieren. Obwohl Leon de Winter zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans erst 27 Jahre alt war, gelang ihm eine großartige und sensible Reflexion und ein einfühlsames Porträt eines vor Hilflosigkeit agonierenden Mitdreissigers.
Zur Stimmung die passende Stimme
Der erfolgreiche Schauspieler Christian Berkel trifft zu jeder Zeit exakt den richtigen Ton zur vom Autor beschriebenen oder imaginierten Stimmung des Romans. Dabei reicht das Repertoire von leisen, unterschwelligen Zweifeln bei der Beschreibung der Begebenheiten, die zur Heirat von Paul und Mieke führen oder beim ersten Betrachten der Photos, auf denen er seinen Zwillingsbruder zu erkennen glaubt, bis hin zu offener Verachtung beim Reflektieren über seine Schüler. Besonders brillant ist die Rezitation der Betrachtungen Pauls über seine wechselnden Ansichten bzgl. der Affäre mit Pauline und über die intendierte Abänderlichkeit historischer Gegebenheiten. "Place de la Bastille" zeigt uns, dass es zwischen dem amerikanischen Weg einer Nicole Krauss und dem Italienischen eines Alessandro Piperno noch der Facetten gar viele gibt, von denen der vorgenannte Roman mit Sicherheit zu einem der gelungensten gezählt werden kann. Und dabei ist dieser, im Gegensatz zu den vorgenannten, bereits vor 25 Jahren geschrieben worden.
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