Fotografien von Pierre Bourdieu
"… die Fotografie ist Ausdruck der Distanz des Beobachters, der Daten speichert und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten speichert (was in so familiären Situationen wie der eines Dorfballes nicht immer einfach ist), aber zugleich setzt die Fotografie auch Vertrautheit, eine Aufmerksamkeit und Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus. Details, die der Beobachter nur durch eben diese Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag, eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Situation, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch eng verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem einzigen Blick begegnet bin, den ich - auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen - als liebevoll, ja als oft gerührt bezeichnen möchte", wird Pierre Bourdieu auf der allerersten Seite dieses Bandes zitiert. Das ist differenziert und gescheit beobachtet (und geschildert) und dass er den Menschen mit liebevollen und gerührten Blicken begegnet ist, glaubt man bei einigen der Fotos, die hier versammelt sind, durchaus nachvollziehen zu können, doch ob diese Aufnahmen auch "Vertrautheit, eine Aufmerksamkeit und Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details" zu vermitteln vermögen? Man kann auch anders fragen: Ist Pierre Bourdieu als Fotograf so überzeugend wie er es als schreibender Beobachter ist?
Wer sich für Bourdieus frühes Werk interessiert, für den sind diese Fotos eine aufschlussreiche Ergänzung zu den Texten in diesem Band, doch ob sie dem Leser auch "einen tiefen Einblick" in dieses Werk geben, wie der Verlagstext behauptet, nun ja, was heisst das schon? Dass die Fotos als Fotos (und das meint hier: als Kompositionen) aussergewöhnlich gelungen seien, wird man wohl von den meisten nicht finden, doch einige gibt es, die sind in jeder Hinsicht überzeugend - die Aufnahme der beiden jungen Mädchen auf Seite 22 etwa, bei der Darstellung, Licht und Mimik sich ganz hervorragend ergänzen.
Christine Frisinghelli von Camera Austria, die diesen Band zusammen mit Franz Schultheis herausgegeben hat, und auch Bourdieu selber, scheint die Frage, ob diese Fotos aus künstlerisch-ästhetischer Sicht wirklich was wert seien (wie bereits gesagt: einige sind es zweifellos), ebenfalls umgetrieben zu haben. So schreibt Frisinghelli: "Bourdieu stand dem Projekt einer Ausstellung und Publikation zunächst skeptisch gegenüber, da er die künstlerisch-ästhetische Wirkung seiner Fotos nicht überbewertet sehen wollte. Und auch für uns galt es abzuwägen, ob ein so dezidiert im Kunst-Kontext positioniertes Projekt wie Camera Austria die geeignete Institution sein könnte um Bourdieus ethnographisch definiertes fotografisches Material zu bearbeiten." Offenbar ja, die Begründung findet sich im Buch. Zudem kann man da auch ein anregendes Gespräch über diese Algerien-Fotos zwischen Franz Schultheis und Pierre Bourdieu lesen, das einen dazu verleitet, diese Bilder mit Sympathie zu betrachten - und so soll es ja auch sein.
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