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Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut

Bulgarische Nivea und Nostalgie

"Dein Knäuel ist zu Ende", meint der Minotaurus zu Theseus, der gekommen ist, ihm den Kopf abzuschlagen und der mithilfe des Ariadne-Fadens wieder aus dem Labyrinth des Minotaurus herausfinden möchte. Und der kleine Georgi empfindet sich ebenso als Labyrinth-Bewohner, denn sie hätten immer im Souterrain gewohnt, die Wohnungen seien billiger, und oft habe er nur einen Keller gegen einen anderen ausgetauscht, aber wenn einer endlich aus dem Keller herausgekommen sei, bleibe der Keller in ihm, schreibt Georgi Gospodinov in Anlehnung an das bekannte Elvis-Presley-Zitat vom Ghetto. "Worüber kann einer erzählen, der sein Leben lang in der Dunkelheit eines Kellergewölbes eingeschlossen gewesen ist?", fragt er am Ende des Romans selbstkritisch, aber jeder der den Roman zu Ende liest, wird wissen, dass dies ein Understatement ist, denn "Physik der Schwermut" ist ein Feuerwerk an Ideen, ein Sammelsurium von Wort-Raketen, die den Himmel in bunteste Farben tauchen: Gospodinov rocks!

Kommode Gedächtnis

"Wenn jemand sehen will, wie sein Viertel nach dem Ende der Welt aussieht, muss er nur am 1. Januar nachmittags aus dem Haus gehen. Unbeschreibliche Stille. Die zur Verfügung stehenden Mengen an Freude sind am Abend vorher aufgebraucht worden, bis auf den Grund geleert." Für Clochards finde Neujahr am 1. Januar statt: die Mülltonnen sind voll. Witzig beschreibt Gospodinov auch die Angewohnheiten der 1970er, in denen Botschaften ans All und somit in die Zukunft gesendet wurden: die Goldene Schallplatte und viele andere Raumkapseln sollten Außerirdische auf uns aufmerksam machen. War das ein Hilferuf? Oder einfach nur eine Gedächtnisstütze, eine Eselsbrücke? "Ihr Gedächtnis ist eine Kommode, ich kann spüren, wie sie lang verschlossene Schubladen öffnet", schreibt er über eine Frau, die einst mit seinem Vater ein Verhältnis hatte und die er anonym aufsucht, um ihr einen Zettel des Verstorbenen heimlich zu übergeben. Gegenwart und Vergangenheit verwebt Gospodinov zu einem Labyrinth leuchtender Ideen, die die Jahrhunderte als Erinnerungen überleben werden. Denn schließlich ist es das, was wir sind: die Summe unserer Erinnerungen, die Kommode Gedächtnis, manche mit vielen, manche mit wenigen Schubladen.

Eine Jugend im Kalten Krieg

Vor dem zweiten Kapitel findet Gospodinov einen "Ort zum Innehalten": ich kann keine lineare Erzählung anbieten, weil kein Labyrinth und keine Geschichte linear ist. Sind alle da? Wir brechen auf." Und ab geht die Rakete! Gospodinov schreibt über den Gott der Ameisen und die unsichtbare Grenze, die einen Kreis, der durch einen menschlichen Finger gezogen wird, zu einer unüberwindlichen Mauer für die Ameise wird. Da man niemanden vertrauen könne, der kein Gesicht habe, wird Gott für den kleinen Georgi zu einem Insekt, das uns beobachtet. "Nur das Kleine kann überall sein". Und diese Dinge will der Autor aufschreiben, vermerken, sammeln. "Weinen ist ein langes, geräuschvolles Ausatmen von Angst." Von den Toten lernt er das Lesen und beschreibt den größten Trick der Konspiration als "wie die anderen zu sein". Lenin, das Genie des Banalen, und das Weltall als Bibliothek, prägen die Vorstellungen des Kindes und Jugendlichen, der in einer sozialistischen Gesellschaft aufwächst, die den Kommunismus als Endziel betrachtet. Seine Diagnose lautet denn auch "Pathologische Empathie oder Obsessiv-Empathisch-Somatisches System", aber seine Großmutter hatte das schon früher erkannt: "Hoooppla, und wieder ist er irgendwo anders."

Colony Collapse Disorder

"Nur in der Kindheit ist Unsterblichkeit möglich" und bald lernt er auch die Segnungen des Erwachsenwerdens kennen, worunter mit Sicherheit auch die "bulgarische Nivea" fällt. Minutiös beschreibt er seinen ersten Kinobesuch und die damit verbundene Erweckung als Cowboy, und in der "Kapsel" seiner Sammlung legt Gospodinov auch die ersten Küsse ad acta, wie sie nur im senil-gerontokratischen System der Sowjetunion chronologisiert werden konnten: "Erster Kuss, Breschnew stirbt, zweiter Kuss Tschernenko stirbt, dritter Kuss, Andropow. Erster ungeschickter Sex im Park: Tschernobyl." Und wer hätte gedacht, dass die Beatles in Yellow Submarine "pusni mi verigata" (lass mich von der Kette singen)? Später nimmt er sich auch dem Problem der aussterbenden Bienen an, das mit dem Begriff Colony Collapse Disorder (CCD) von der Wissenschaft erklärt wurde: sie finden nicht mehr nach Hause. Eine Liste der zur Verfügung stehenden Antworten auf die Frage "Wie geht’s?" ist so witzig zu lesen, dass man am Ende wirklich antworten würde: "Besser wäre kriminell".

Körper Welt, Körper Haus

"Wo sind nur all diese Tamagotchis hin?", eine Frage, die man sich spätesten Mitte der Neunziger vielleicht selbst einmal gestellt hat und die mit dem Aufkommen der Handys erklärt werden könnte, vermischt Gospodinov mit Ideen seines Alter Egos Gaustin, der das "Kino für Arme" und viele andere Einfälle hat, wie man zu Geld kommen könnte, etwa Prêt-à-Porter Präservative u. ä. Aber über all diesem Witz, Charme, harmlosen Spielen und unglaublichen Sarkasmus schwebt ein gefährliches Gespenst, die Schwermut, die ihn spätestens als jungen Erwachsenen überwältigt. Im Altern beschließt er alles, was er verloren hatte, um sich zu sammeln. "Früher konnte ich alle Körper der Welt bewohnen, jetzt bin ich glücklich, wenn es mir gelingt, im Haus meines eigenen Körpers von Zimmer zu Zimmer zu gelangen. Am längsten, habe ich es schon erwähnt?, verweile ich im Kinderzimmer."

"Ich danke allen, die mich mit der Einsamkeit versorgt haben, die für einen Roman notwendig ist." Die Taschenbuchausgabe ist bei dtv erschienen, beim Droschl-Verlag gibt es auch eine gebundene Version und weitere Werke des Autors.


von Juergen Weber - 18. Februar 2017
Physik der Schwermut
Georgi Gospodinov
Alexander Sitzmann (Übersetzung)
Physik der Schwermut

dtv 2016
320 Seiten, broschiert
EAN 978-3423145336