Meister der Komposition
"C’est simplement que je suis nerveux et que j’aime la peinture. Quant à la photographie, je n’y entends rien.", wird Cartier-Bresson im Vorwort zitiert und der Betrachter seiner Fotografien weiß, dass es sich dabei nur um ein Understatement handeln kann. Schon das zweite Foto, das in Liverpool/England entstanden ist, zeigt eine Szene wie sie hoffnungsloser nicht sein könnte. Es sieht tatsächlich wie komponiert aus, ein bis auf seine Vordermauer zusammengebrochenes Haus, im Hintergrund die Silhouetten anderer Ruinen und drei kleine Schulmädchen, die an der düsteren Szene unbeeindruckt vorbeieilen, alles umhüllt von Nebel: mehr braucht es nicht, um eine Geschichte zu erzählen und vielleicht ist es das, was die Fotographien von Henri Cartier-Bresson so groß machen. Es gibt ein Narrativ.
Die Welt in Bildern
Auch ein New Yorker Hinterhof erzählt so eine Geschichte, ein Mann mit Hut sitzt am Boden vor einer Katze, vielleicht im Dialog mit ihr, vielleicht starrt er sie aber auch einfach nur an und schweigt. Eine Feuerleiter im Hintergrund zeigt, wie hoch die Häuser sind und dass das, was nach unten in die Sicherheit führen soll, auch ein Weg ist, nach oben zu entkommen: in den Himmel Manhattans. Berliner Taxifahrer aus den Dreißiger Jahren, kopulierende Hunde auf einem französischen Trottoir, Alberto Giacometti, der sich seinen Mantelkragen über den Kopf zieht, um sich gegen den Pariser Regen zu schützen, natürlich mit Zigarette in der Hand und brav auf der Straßenmarkierung jonglierend. Kinder kommen immer wieder vor bei Henri Cartier-Bresson, vor Graffitimauern posierend oder maskiert und bewaffnet auf einem Fahrrad: stets beachtet der Fotograf die Komposition, die feinen Linien, die auch rund sein können und das Bild tatsächlich zu einem Gemälde machen, weil Cartier-Bresson dem Dargestellten damit einen Rahmen gibt.
Bäume wie Stalagmiten
Auf einer Allee beim Prado, Marseille, steht ein eleganter Mann mit Zigarettenspitze, Regenschirm, Melone und einem Tabarro über seinen Schultern. Die Bäume der Allee im Hintergrund sind ohne Blätter, ragen auf wie Stalagmiten, Säulen aus dunklem Holz, gespenstisch ihre Arme in die Höhe streckend, als gäbe es etwas vom Himmel zu fordern, als würde er sich öffnen und die Gebete nach Regen oder Sonne oder Manna erhören. Der Mann steht im Vordergrund, er weiß wahrscheinlich gar nicht, welches Drama sich hinter seinem Rücken abspielt, wie die Welt sich hinter ihm dreht und die Autos rollen und die Spaziergänger gehen oder die Bäume betteln. Viele Fotos stammen aus den Dreißiger und Vierziger Jahren, in denen die Résistance eine Rolle spielte oder Jean Paul-Sartre auf der Pont des Arts steht, Pfeife rauchend und mit dem Bildrand kokettierend. Die Zielscheibe auf einem Holztor ergibt eine Symmetrie mit der runden Brille eines Arbeiters, der durch das Tor schaut, als gäbe es etwas zu beobachten. Natürlich porträtiert Henri Cartier-Bresson auch die Außenseiter der Gesellschaft, Prostituierte in Spanien oder Zigeuner in Mexiko, Clochards in Paris, Obdachlose und Enteignete. Die Mauer in Berlin 1962, noch vor ihrer Fertigstellung oder ein Kreuz mit der Aufschrift "Jesus is coming soon" auf einem Autofriedhof in Knoxville, Kentucky, die Segregation in Mississippi oder ein Fahrradfahrer, der unter der Krone eines Baumes ein Mittagsschläfchen neben einer Landstraße in Irland hält.
Japan, China, USSR, Ceylon, Indonesien, ein hungerndes Kind neben dem Rad eines Pferdewagens in Indien, das Ehepaar Curie händereibend, Klosterschwestern in Robe, Kardinäle und auch der junge Capote oder Ezra Pound, Henri Matisse mit seinen weißen Tauben bevölkern Cartier-Bressons Welt oder auch einfach nur sein Bett in Paris.
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