Neue Phänomenologie und Kulturkritik
Wer sich diesen wissenschaftlichen Sammelband zu Gemüte führen will, tut gut daran zu wissen, was sich hinter den Begriffen Phänomenologie und Neue Phänomenologie verbirgt. Auf den Begriff der Kulturkritik gehen die Autoren in ihren Aufsätzen umfangreich selbst ein.
Mein Interesse an dieser philosophischen Richtung hat ein Vortrag von Jürgen Hasse in Frankfurt geweckt, der in diesem Buch einen Aufsatz beigetragen hat. Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Zugängen beschränkt sich die Phänomenologie nicht allein auf die Vernunft, sondern macht auch unwillkürliche Lebenserfahrungen zu ihrem Gegenstand. Dementsprechend spielen Gefühle, Eindrücke, Atmosphären und Subjektivität eine große Rolle. Hasse zeigte dies in Frankfurt anhand einer kleinen Studie zur Wahrnehmung des neuen Campus Westend unter Studierenden. Signifikante Unterschiede zeigten sich anhand der studierten Fächer: Während die einen das ehemalige IG-Farben-Gelände und die weitere Architektur darum herum eher als bedrohlich-monumental empfanden, nahmen es andere eher als angenehm wahr und konnotierten es positiv.
Kulturkritik steht als Thema im Zentrum dieses Sammelbands - auch mit dem schlechten Ruf der Kulturkritik setzen sich die Autoren auseinander. Leider sind aufgrund der verwendeten philosophischen Fachsprache einige Aufsätze für Menschen, die damit nicht vertraut sind, nur schwer lesbar. So zum Beispiel Jürgen Hasses "Kampf um Identitäten". Ein leuchtendes Gegenbeispiel liefert der Herausgeber Großheim mit seinem sehr interessanten Beitrag "Von der Maigret-Kultur zur Sherlock Holmes-Kultur (sic)". Anhand des Beispiels der unterschiedlichen Vorgehensweise der beiden Krimi-Helden erklärt Großheim die Begriffe Konstellation und Situation: Während Maigret mit "hermeneutischer Intelligenz" die Situationen versteht, löst Sherlock Holmes seine Fälle mithilfe seiner "analytischen Intelligenz" innerhalb von Konstellationen. "Eine Konstellation ist, vereinfacht gesagt, ein Netz aus lauter einzelnen Faktoren. Eine Situation ist dagegen eine binnendiffuse Ganzheit" (S. 55). Auf dieser Grundlage erklärt Großheim auch, was das Problematische an der Tendenz zu Konstellationen in der Gesellschaft ist: Menschliche Beziehungen zeichnen sich durch ihre Ganzheit aus, nicht durch ihre vorhersagbare Entwicklung, die es im Anschluss anhand erreichter Zielvorgaben zu evaluieren gilt.

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