Über das Menschsein
Die Fotografien von Gotthard Schuh sind von malerischer Schönheit und der einzigartiger Sinnlichkeit. Die Atmosphäre seiner Aufnahmen ist ebenso historisch wie soziologisch aufgeladen und berichtet nicht nur von den weltpolitischen Wendepunkten, sondern auch von der gelebten und erlebten Geschichte. Seine Bilder erinnern mal an Eugène Atget und mal an Henri Cartier-Bresson, haben ebenso etwas von den Aufnahmen eines Robert Capa wie auch eines Martin Munkácsi. Der Stil eines Werner Bischof klingt ebenso an wie die Atmosphäre der Bilder Erich Lessings oder der seines Freundes Robert Frank.
Schuh wurde 1897 in Berlin-Schöneberg geboren. Nach seiner Ausbildung an der Gewerbeschule in Basel versuchte er sich in Deutschland zunächst als Maler. 1926 kehrt er in die Schweiz zurück und wendet sich als Autodidakt zunehmend der aufstrebenden Kunst der Fotografie zu. Ab den 1930er Jahren arbeitet er als freischaffender Künstler, hauptsächlich für die Zürcher Illustrierte, aber auch für Paris Match oder Life.
Zu seinen ersten Aufnahmen gehören vor allem atmosphärische Impressionen seiner Wahlheimat Schweiz, seien es Naturaufnahmen oder Bilder von schweizerischen Festivitäten. In den 1930er Jahren unternahm er auch erste Auftragsreisen in Europa und fotografierte Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien und die Schweiz am Vorabend des zweiten Weltkrieges. Seine teils gestochen scharfen und manchmal bewusst im Nebligen gehaltenen Fotografien erzählen von gesellschaftlichen Schwingungen und wirtschaftlichen Verhältnissen, von sozialen Realitäten und politischen Spannungen und nicht zuletzt auch von beeindruckend schönen, imposanten und / oder symbolisch aufgeladenen Gegebenheiten von Natur und Architektur. Dabei gelang es Gotthard Schuh, die Vielfalt der sozialen Wirklichkeiten in Europa in all seinen Facetten abzulichten, ohne dabei das drohende Dunkel von Faschismus und Nationalsozialismus zu eliminieren. Schuhs Aufnahmen und sein poetischer Blick auf den Menschen in seinen Lebensumständen machen deutlich, dass er zu den Gründern der Dokumentar- und Reportagefotografie gezählt werden muss.
Dennoch zählt er zu den Unbekannten der europäischen Fotografie, zu einem ewigen Geheimtipp. Neben Granden wie (um nur einige zu nennen) Eugène Atget, Martin Munkácsi oder Robert Frank blieb am Tisch der renommierten europäischen Fotografen für ihn kein Platz mehr frei. Er fand daher auch nie Aufnahme in den legendären Kreis der Magnum-Fotografen, vielleicht weil seine besten Reportagen zum Zeitpunkt der Gründung der berühmtesten Fotoagentur 1947 bereits Geschichte waren.
Wie etwa die seiner Indonesienreise Ende der 1930er Jahre. Einzigartige und zu seiner Zeit einmalige Eindrücke lieferte seine Dokumentation "Inseln der Götter". In den 1941 erschienenen Bildband lässt er objektive Verweise auf die indonesischen sozialen Verhältnisse einfließen - über die Gesundheitsversorgung, die Armut auf dem Lande und die Verlockungen der Stadt sowie über religiöse und traditionelle Riten und Gebräuche. Darüber hinaus sind es aber vor allem die persönlichen und intimen Fotografien seiner Begleiterinnen, die seine ganz persönliche Geschichte von den "göttlichen" Inseln erzählen. Es sind Aufnahmen von anrührender Sinnlichkeit und knisternder Erotik, völlig frei von Misstrauen und Verlegenheit. Bilder von geradezu religiöser Verehrung und tiefgründigen Respekts, voller Anmut und Melancholie. Es sind keine Aktaufnahmen im klassischen Sinne, aber intimer kann Fotografie nicht sein, als hier von Gotthard Schuh praktiziert. Die emphatische Souveränität, die für solche Aufnahmen notwendig ist, war Schuh wie einem Wunderkind quasi gegeben und hat ihm zu zahlreichen weiteren, beeindruckend intimen Akt- und Paaraufnahmen verholfen.
Betrachtet man allein das beeindruckende Werk, dass der Wahlschweizer allein aus seiner ersten Schaffensdekade hinterlassen hat, wundert man sich, dass es Gotthard Schuh nie in den Olymp der Reportagefotografie namens Magnum geschafft hat. Von 1941 bis 1960 arbeitete er als Bildreporter bei der NZZ und reiste von Paris nach Mailand, von Singapur nach Alexandria. Dabei blieb Schuh seinem schlichten, dokumentierenden Stil treu. Die Sensation war nie sein Metier. Schuh ist eher ein Vasall der stillen Fotografie, die ihre Kraft aus der Melancholie und der schwebenden Atmosphäre der Ruhe zieht, ganz egal ob bei Landschaftsaufnahmen oder seiner Autorenfotografie.
Fünfzig Jahre nach seinem Tod im Dezember 1969 würdigt nun eine Ausstellung im belgischen Charleroi (vorher schon in Winterthur in der Schweiz) den großen Unbekannten der europäischen Fotografie. Der Ausstellungsband versammelt neben oft reproduzierten Ikonen aus Schuhs Lebenswerk auch zahlreiche, bisher unbekannte und in ihrer Sensibilität unter die Haut gehende Fotografien. Die Essays von Peter Pfrunder (Direktor der Fotostiftung Schweiz), Gilles Mora (Chefredakteur diverser Fotozeitschriften und von 1995 - 2001 künstlerischer Direktor der Rencontres Internationales de la Photographie d’Arles) und Martin Gasser (Konservator der Fotostiftung Schweiz) bieten verschiedene Ansätze zur Interpretation und Ordnung von Schuhs Werk, dessen innersten Zusammenhalt sie in seiner "Verliebtheit" zu seinen Objekten, der Sehnsucht nach Glück und Zärtlichkeit sehen.
Dieser Bildband ist ebenso wenig spektakulär wie die Aufnahmen Schuhs nach Sensation trachteten, aber er zieht seine Attraktivität analog zu Schuhs fotografischem Werk aus der Stille und Melancholie der enthaltenen Aufnahmen. "Eine Art Verliebtheit" ist kein Aufsehen erregendes Feuerwerk der Fotografie, aber ein Juwel, den zu entdecken und erobern sich außerordentlich lohnt.
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