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Peter Henning: Leichtes Beben

Einunddreissig Erd- und Pflichtbeben

Die Erde bebt und Menschen werden erschüttert. Das eine hat jedoch mit dem anderen nur wenig zu tun. Die Hauptfiguren in Peter Hennings neustem Roman "Leichtes Beben" sind mehrheitlich unzufrieden und vom Leben enttäuscht. Diesbezüglich bringt auch das Beben nichts durcheinander. Warum also überhaupt ein Erdbeben? Da ist einerseits der Bezug zu "Schweres Beben", dem 1992 erschienenen Roman von Jonathan Franzen, der zu den grossen Vorbildern Hennings zählt. Der Titel ist offensichtlich eine Anspielung an das Werk von Franzen - doch die Frage bleibt: Welche Bedeutung hat das Erdbeben inhaltlich? Andererseits - und damit liegen wir keineswegs falsch - dient das Erdbeben als roter Faden durch einunddreissig Episoden, in denen die Erde bebt. Ob das jedoch reicht, um die Erzählungen zu einem Roman zusammen zu binden, ist durchaus fragwürdig, denn nur manchmal ist das Beben thematisch und vom Ablauf her logisch in die Erzählung eingebunden, oft scheint der Bezug stark forciert und wenig glaubwürdig.

Das Aufgebot an Personal ist gross. Nicht immer gelingt es dem Leser (und dem Autoren?) die zahlreichen unglücklichen Protagonisten auseinander zu halten. Während viele Schicksale in der Menge untergehen, gibt es andere, die im Gedächtnis haften bleiben. Da ist der Chefdekorateur Küppers, der seinen achtjährigen Sohn Robert, der in einem Kinderheim lebt und den er seit der Geburt nicht gesehen hat, besuchen will. Obwohl bei Robert bereits angekündigt, kommt es schlussendlich nicht zum Besuch, sondern zu einem Absturz in einer ländlichen Gaststätte. Zwischen den Zeilen liest sich die panische Angst Küppers, dem Jungen gegenüberzutreten. Auch die eigene Unruhe wird mit jedem weiteren Bier, das Küpper bestellt, grösser. Die Worte der zuständigen Schwester im Kinderheim, bezichtigen Küppers vollends der Schuld: "Das hätten sie ihm nicht antun dürfen. Nicht nach der langen Zeit. Robert hat bitterlich geweint."

Die Episoden sind reich an Ereignissen und arm an Tiefe. Auch sprachlich wird stets mit der grossen Kelle angerichtet. Spätestens wenn sich Menschen ins "Leben stürzen wollen wie der Falter in die Flamme" und Stripteasetänzerinnen sich "geschmeidig wenden wie Schlangen auf warmen Steinen", dann ist die Grenze zum Kitsch überschritten. So geschehen beim einstigen Fernfahrer Wilke, der nach dem Besuch im Stripteaselokal mit der Tänzerin nach Hause geht, wo er an ihren Brüsten saugt während sie sich als ehemalige Klassenkameradin outet: "Liebesbriefe. Und du hast mich ausgelacht, damals! Doch ich blöde Kuh konnte nicht anders, als dir immer wieder zu schreiben und aufzulauern. O Gott, wie verknallt ich damals war!"

In einer anderen Episode sitzen drei Fahrgäste nachts auf einem Bahnhof fest. Sie kommen miteinander ins Gespräch und Paul Andernach, Rezensent und Schriftsteller, manifestiert, was er von einem Buch erwartet: "Ich mag und bewundere Schriftsteller, die tatsächlich etwas zeigen, das wir so noch nicht gesehen haben. Eine bislang verborgene Schönheit, einen so noch nicht gedachten Gedanken, ein so noch nicht gelesenes Bild." Natürlich ist Andernach nicht Henning, und doch ist es immer problematisch, der Kritik die Worte gleich in den Mund zu legen, die eigenen Erwartungen im Text festzuhalten und dem Buch die persönliche Messlatte anzulegen. Und schliesslich das eigene Unbehagen gegenüber der Kritik auf die Protagonisten abzuwälzen, hinterlässt einen unbeholfenen Eindruck: "Doch am schlimmsten von allen sind die Kritiker. Das sind alles Heuchler! Leute, die gar nicht wissen, was es heiβt, ein Buch zu schreiben."

Mit dem Motto des Buches "Wir alle stehlen und werden bestohlen" zitiert sich der 1959 in Hanau geborene Henning, der insbesondere mit "Die Ängstlichen" (2009) einen grossen Erfolg gefeiert hat, gleich selber. Eingebunden in die zweitletzte Geschichte des Romans, erklärt Miriam: "Und worum es [beim Stehlen] geht, ist, nicht erwischt zu werden. Um den Verlust zu ertragen. Manchmal überraschen wir uns selber mit dem, was wir tun." Was bleibt, wenn alle stehlen und bestohlen werden? Vielleicht ein leichtes Beben mit einunddreissig Erzählungen und ebenso vielen unglücklichen Menschen.


von Jan Rintelen - 20. Dezember 2011
Leichtes Beben
Peter Henning
Leichtes Beben

Ein Roman
Aufbau 2011
331 Seiten, gebunden
EAN 978-3351033569