Urs Widmer

Mutter, Mutter

Vermutlich wäre der Geliebte der Mutter gar nicht erwähnt worden, wäre er nicht ein erfolgreicher Dirigent gewesen. Nein, die zentrale Figur in Urs Widmers Roman ist die Mutter selbst. Eine Mutter, die keine war. Clara, so heißt die Mutter im Roman, wuchs mit einem despotischen, patriarchalischen und neureichen Vater auf, verlor bereits in den Mädchenjahren die eigene Mutter und hatte daraufhin deren Funktion zu übernehmen. Anstelle einer eigenen Ausbildung nachzugehen, spielt sie stellvertretend für ihre eigene Mutter die Rolle einer "besseren Dame". Durch den plötzlichen Tod des Vaters und dem unter anderem auch damit verknüpften finanziellen Ruin steht sie vor dem Nichts.Sie heiratet dann und hat einen Sohn, wird jedoch - er ist gerade dreijährig - in die Psychiatrie eingewiesen. Unter Depressionen leidend, versucht sie wiederholt sich umzubringen. Mit vierundachtzig Jahren stürzt sie sich aus dem Fenster. Und so beschreibt sie ihr Sohn: "Vielleicht war ihre Art, dass sie oft starr in einer Zimmerecke stand, mit Augen, die nach innen sahen, geballten Fäusten, einer glühenden Hitze im Hirn. Sie atmete kaum mehr dann, stöhnte zuweilen auf." (S. 12 ) Dieser sehr spannend und hervorragend geschriebene, stark autobiografisch geprägte Roman zeichnet sich durch einen eigenwilligen, aber brillanten Kontrast zwischen der Dramatik der Ereignisse und der emotionslosen Darstellung aus. Im nachfolgenden Beispiel ist die Beziehungslosigkeit der Mutter zu erkennen, auf die das Kind reagiert, indem es sich einmauert. So schildert Widmer das Verhalten der Mutter, als 1945, von weitem winkend, der Vater aus dem Aktivdienst zurückkommt: "Die Mutter hob eine Hand, winkte auch. "Hund", sagte sie zum Hund. "Von heute an müssen wir den Frieden bestehen, wir zwei." Sie stand auf und stieg über das Kind hinweg, das auf dem Boden saß und mit Steinen eine Burg baute, ein uneinnehmbares Kastell, und ging ins Haus." (S. 103) Aber das Kind hatte nicht nur keine Mutter, es hatte Angst vor ihr und empfand sie als bluttriefenden Vampir - "Sie saugte ihre Opfer leer, ließ ihre Hülle zurück. Das war ihr Sieg." - nicht zuletzt, weil die Mutter ihre Todessehnsüchte nicht nur aussprach, sondern das Kind auch "mitnehmen" wollte: "Kein Tod den sie nicht auf ihrer Liste hatte. Und natürlich vermeinte sie [...], das Kind mitnehmen zu müssen. Das tat keine gute Mutter, ihr Kind allein zurücklassen." "Sie träumte - oder träumte das ihr Kind? -, ihr Kind äße sein eigenes Herz, weil es sich vor der Nahrung der Mutter fürchtete. Es sei wahnsinnig geworden das Kind" (S. 116). Insgesamt handelt es sich um eine Geschichte, die das Leben schrieb, wenn nicht Urs Widmer sie noch viel besser geschrieben hätte. Gut wäre, wenn Widmer dem Buch über die Mutter (2000) und über den Vater (2004) jetzt ein Buch über das Kind folgen lassen würde ...

Der Geliebte der Mutter

Vater, Vater

Dreißig Jahre nach dem Tod des Vaters schreibt der Sohn dessen verloren gegangenes Tagebuch als Roman neu. Der Anfang des 20. Jahrhunderts geborene Vater - Sohn eines zugezogenen Grundschullehrers - ist, wie sein Bruder, der später Pfarrer wird, Klassenprimus im altsprachlichen Gymnasium, promoviert in Romanistik und landet, nach kurzer Assistententätigkeit an der Uni, als Französischlehrer am neusprachlichen Gymnasium. Er verfasst auch ein Französisch-Lehrbuch (Pas à Pas), welches über Jahrzehnte von den Schulen in Basel verwendet wurde. Gleichzeitig macht er Übersetzungen, schreibt Kritiken und managt eine Künstlergruppe. Walter Widmer (im Roman heißt er Karl) ist ein leidenschaftlicher Sammler. Anfangs sind Bücher das Objekt der Begierde, später kommen Schallplatten und Möbel dazu. Da er mehr sammelt, als er sich eigentlich leisten kann, verbraucht er nicht nur das gesamte Vermögen seiner Frau, sondern bleibt auch Rechnungen schuldig und bezahlt über Jahre seine Steuern nicht. Und so sah er aus: "Brille, beginnende Glatze, Zigarette im Mundwinkel. Er rauchte immer, auch wenn er sprach, las oder aß ... Er hatte eine Schreibmaschine, auf der er mit einem einzigen Finger, dem Zeigefinger der rechten Hand, in einem rasenden Tempo tippte." (Seite 8 / 15) Unter chronischer Migräne leidend, wird er zunehmend abhängig von Medikamenten, ruiniert damit auch seine Gesundheit, wird frühverrentet und stirbt 1965 knapp sechzigjährig. Urs Widmers Roman ist eine dramatische und äußerst spannende Biografie des Vaters, eingebettet in eine hervorragende Charakterisierung der in den umgrenzten Raum der Stadt Basel hinüberschwappenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bemerkenswert auch die ruhige und leicht spöttische Erzählweise, die allerdings einen überzeugenderen Eindruck hinterließe, wenn Ironie bzw. Kritik durchgängig wäre. Eigenartig allerdings die fehlende Empathie für das zwischen einer aus dem Fenster starrenden Mutter und einem schreibwütigen Vater aufwachsenden Kindes, welches - sechzig Jahre später - mit diesem Buch versucht, dem Vater ein Denkmal zu setzten. Gleichzeitig erinnert einen dieser Vater an die herrliche Charakterisierung von Thomas Bernhard: "Die Katastrophe war ja / daß ich sie alle überragte / in geistiger Hinsicht / ich war krank / ich war durch und durch krank / aber ich überragte sie alle" (Th. Bernhard: Einfach kompliziert).

Das Buch des Vaters