Michael Kleider

Wandern in einer südalpinen Landschaft

Die Seealpen sind in verschiedener Hinsicht ein besonders reizvolles Alpengebiet. Alpenkenner Bätzing legt nun einen schönen Wanderführer vor.

Die Seealpen

Portrait der Alpen

Bätzing legt nicht einen Bildband vor, der mit wirklichkeitsfremden Bildern einem die Schönheit der Alpen nahe bringen will, sondern ein echtes Portrait, das die Alpen zeigt, wie sie sind.

Bildatlas Alpen

Die Alpen - Eine Kulturlandschaft

Werner Bätzing, Professor für Kulturgeographie an der Universität Erlangen-Nürnberg, hat sich mit diesem Buch wahrhaft interdisziplinär mit dem Kulturraum Alpen befasst. Einleitend macht er auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam, der meist vernachlässigt wird: das spezifische Bild, das man - unbewusst - im Kopf hat, wenn man mit Hinblick auf Ökologie, Tourismus, Landwirtschaft oder Politik von den Alpen spricht. Der Autor weist dabei drei historische Alpenbilder nach, die typisch sind für die Naturwahrnehmung der jeweiligen Epochen: als Erstes die schrecklichen, gefährlichen Alpen, die "montes horribiles" der Römer; diese Wahrnehmung der Natur als bedrohlich wird lange aufrecht erhalten. Ab dem Mittelalter entsteht eine neue Sicht, die sich mit Aufklärung, Herausbildung der modernen Naturwissenschaften und schließlich Industrieller Revolution am Ende durchsetzt: die ästhetische Naturwahrnehmung, die schönen, idyllischen Alpen mit ihren scharfen Kontrasten zwischen lieblicher Kulturlandschaft und schroffen Bergen. Im 20. Jahrhundert wandeln sich die Alpen zur Freizeitarena, zur imposanten Kulisse für Bergsteiger und Skifahrer. Heute dominiert nicht mehr ein Alpenbild, sondern jede einzelne der zahlreichen unterschiedlichen Aktivsportarten hat ihre eigene Wahrnehmung der Alpen, und zwar als ideales Sportgerät. Viele Umweltschützer dagegen erheben das romantische Alpenbild des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts - die Alpen als Idylle - zur Norm und aktualisieren das antike Bild der schrecklichen Berge neu, jetzt allerdings, um die Gefahren der Umweltzerstörung auszumalen. Ihr Ideal spiegelt aber nicht die Realität, sondern ist ein Alpenzerrbild, "das alle wirtschaftlichen Aktivitäten in den Alpen ausblendet und verdrängt" (S. 18). Folgenreich ist, dass sprunghafte Naturprozesse, also Bergstürze, Muren, Hochwasser, Lawinen oder Stürme, die man gemeinhin als Naturkatastrophen bezeichnet, aus geographischer Sicht geradezu typisches Charakteristikum des Naturraums Alpen sind. Diese Dynamik ist die zentrale Eigenschaft junger Hochgebirge wie den Alpen und direkt verantwortlich für viele typische Hochgebirgsformen und charakteristische Vegetationsentwicklungen. Denn: "Auf Grund labiler Gesteinsschichtungen, steilem Relief, hohen Niederschlägen, kurzer Vegetationszeit und ausgeprägten Temperaturextremen laufen viele Naturprozesse in Form einer sprunghaften Dynamik [...] ab." (S. 42) Die Alpen wären ohne solche "Katastrophen" nicht die Alpen. Der Sachverhalt fordert allerdings besondere Sorgfalt bei Eingriffen in die Natur. Die Alpen sind in ihrer gegenwärtigen Erscheinung keine Natur-, sondern eine Kulturlandschaft, so beispielsweise die Almen. Die Waldobergrenze entspricht fast in den gesamten Alpen nicht mehr der natürlichen Baumgrenze; sie wurde vom Menschen um ca. 300 Höhenmeter nach unten gedrückt, um die wirtschaftlich wichtigen Almen zu vergrößern. Da aber diese wirtschaftliche Bedingtheit der Kulturlandschaft Alpen auch von engagierten Umweltschützern oft nicht gesehen wird, erhalten "viele richtige Kritikpunkte [...] eine falsche Stoßrichtung" (S. 18). So wiederlegt Bätzing die verbreitete Ansicht, Subsistenzwirtschaft sei natürlicher als die spezialisierte Landwirtschaft mit Produktion für den Markt, extensive Nutzungsformen seien verträglicher für die Natur als intensive, eine Ausweitung der Nutzung gehe automatisch mit einer zunehmenden Umweltzerstörung einher. Die entscheidende Frage ist, wie der Mensch die Alpen nutzt. Ein Schlüsselbegriff ist dabei die "Reproduktion", also Reparatur- und Pflegearbeiten, die zur Stabilisierung jeglicher Kulturlandschaft geleistet werden müssen. Gerade die Natur eines Hochgebirges verlangt dem Nutzer ein großes Maß an Ausgleichs- und Schutzmaßnahmen ab wegen der erwähnten Sprunghaftigkeit. Es gibt also keine an die Natur angepasste oder ihr gemäße Nutzung, sondern jede Nutzung bedeutet einen Eingriff in die Natur und erfordert einen gewissen Aufwand an Stabilisierungsarbeit, um ihre eigenen Ressourcen nicht zu zerstören. Sehr eindrücklich schildert der Autor die verschiedenen Maßnahmen und Regelungen, welche die alpinen Agrargesellschaften trafen, um ihre eigene Subsitenzgrundlage zu erhalten, und die letztlich erst die von uns heute als "Alpennatur" so hoch geschätzte, abwechslungsreiche und teils liebliche, kleinräumige und artenreiche Kulturlandschaft hervorbrachte. Mit dem Niedergang der Landwirtschaft werden vormals genutzte Flächen aufgegeben. Überlässt man diese Flächen nun sich selbst, stellt sich nicht automatisch und schnell "Wildnis" oder gar der frühere Naturzustand wieder her. Je nach Lage können nach Schätzung des Autors die Sukzessionsprozesse Jahrhunderte dauern, bis wieder ein stabiles Ökosystem entstanden ist. Lässt man auf diesen vom Menschen gestalteten Arealen eine ungestörte Naturentwicklung zu, entsteht nach einer vorübergehenden Zunahme der Artenvielfalt für lange Zeit eine sehr artenarme Ersatzgesellschaft, die zugleich ökologisch labil ist. Da einerseits Intensivierung der Landwirtschaft in günstigen Lagen, andererseits Extensivierung oder Aufgabe unrentabler Flächen inzwischen weit vorangeschritten sind, ist eine flächenhafte Labilisierung der Landschaft festzustellen. Nach Ansicht des Autors ist daher eine "Zunahme von menschlich verursachten Naturkatastrophen in den Alpen" unvermeidlich (S. 248). Durch die veränderte bzw. eingestellte Nutzung der Alpenlandschaft ist ihr Ökosystem gegenüber der Vergangenheit deutlich instabiler geworden. Die globale Klimaveränderung kommt hinzu; und so zieht Bätzing das beunruhigende Fazit, "dass die ökologische Stabilität der Alpen in Zukunft nicht mehr gesichert ist." (S. 252). Der besondere Artenreichtum der Kulturlandschaft Alpen wurde vom Menschen im Laufe von Jahrhunderten geschaffen, kann aber bei Verbrachung innerhalb von 5 bis 20 Jahren verloren gehen. Und hier liegt der eigentliche Verlust. Der Autor gelangt zu der deprimierenden Gesamtbilanz: "Die Alpen verschwinden" (S. 314). Nicht in dem Sinn, dass das Gebirge verschwände, aber die Alpengebiete verlieren ihren Charakter als eigenständiger Wirtschafts- und Lebensraum. Die Alpenrandregionen und großen Haupttäler werden "vervorstädtert", die unzugänglichen Gebiete entsiedelt, die bäuerliche Kulturlandschaft verbuscht, die zuvor kleinräumige und vielfältige Landschaft wird eintönig und abweisend, ihre Biodiversität nimmt ab. Natürlich schlägt Bätzing auch Lösungswege vor, sie sind in diesem Buch allerdings nicht detailliert ausgearbeitet. Die wichtigste Botschaft ist hier: Die Alpen brauchen eine gesunde ökonomische Grundlage, die aber keine Monostruktur sein darf. Und: Verschiedenen Alpenregionen der Staaten Österreich, Deutschland, Schweiz, Liechtenstein, Frankreich, Italien, Monaco und Slowenien müssen ihre Interessen in Europa gemeinsam vertreten und untereinander kooperieren, am besten im Rahmen der Alpenkonvention, anstatt sich auf die nächste außeralpine Metropole auszurichten. Beispiel für eine derartige Fehlentscheidung sind die Schweizer Kantone Graubünden und Glarus, die beschlossen haben, enger mit der Stadt Zürich zusammenzuarbeiten, anstatt miteinander und den übrigen angrenzenden Alpenregionen. Dies wird nur die beklagte Vervorstädterung beschleunigen. Alpenorte und -täler sollten nicht untereinander konkurrieren, sondern sich über ein gemeinsames Konzept einigen. Bätzing nennt als Beispiel den Ausbau der Transitstrecken durch die Alpen. "Die Konkurrenz zwischen Tirol (forcierter Autobahnbau) und der Schweiz (Bevorzugung der Schiene) sorgte dafür, dass die sinnvolle und vernünftige Schweizer Transitverkehrspolitik immer mehr zum inselhaften Phänomen wurde", anstatt dass man sich gemeinsam in Europa stark gemacht hätte (S. 341). Heute beklagen ja gerade die Tiroler die verfehlte Politik der Vergangenheit, sehen aber nicht, dass man das Verkehrsdesaster selbst verursacht hat. Das Buch von Werner Bätzing beleuchtet die Alpen aus den unterschiedlichsten Richtungen und ermöglicht so einer breiteren Öffentlichkeit, das Gebirge als das wahrzunehmen, was es ist: eine Kulturlandschaft, die als Hochgebirge zwar nicht in weltweiten Dimensionen, aber innerhalb Europas einmalig ist. Bätzing vermittelt so vielfältige Einsichten und Ansichten der Alpen, dass es unmöglich ist, in einer Rezension auch nur annähernd auf alle wichtigen Aspekte einzugehen. Man kann das Werk nur allen Liebhabern dieses Gebirges wärmstens ans Herz legen. Sowohl Menschen, die sich für die Umwelt engagieren, als auch Politiker können hier Denkanstöße finden. Aber auch der Tourist wird Aspekte entdecken, die ihm ein tieferes Verständnis der bereisten Region vermitteln, als das konventionelle Reiseführer vermögen.

Die Alpen