Die Geschichte des Euro aus der Sicht von Otmar Issing
Das Ausmaß der seit dem Spätsommer 2007 schwelenden und im Herbst 2008 geradezu explosionsartig ausgebrochenen Finanzkrise mag zwar auch Otmar Issing überrascht haben - jedoch nicht der Ausbruch dieser Krise als solcher. Schließlich gehörten die EZB und die BIZ zu den wenigen Institutionen, welche schon lange vor dem Beginn der Finanzkrise vor dem mangelnden Risikobewusstsein der Banken vergeblich und leider ungehört gewarnt haben. Im Oktober 2008 übernahm Issing den Vorsitz einer Expertengruppe "Neue Finanzarchitektur", die im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge für eine Reform der internationalen Finanzmärkte erarbeiten soll. Gleichzeitig wirkt Issing in einem vergleichbaren Beratungsgremium der Europäischen Kommission mit. Vor diesem Hintergrund und dem aktuellen Bestreben der EZB, eine Führungsrolle bei der Koordination der europäischen Bankenaufsicht zu übernehmen - und nicht zuletzt vor der Tatsache, dass sich zum zehnten Geburtstag des Euro die Gemeinschaftswährung als Stabilitätsanker offenbart (denn ohne den Euro hätten sich die Turbulenzen von den Finanzmärkten auf die Devisenmärkte übertragen) - ist die Lektüre der vorliegenden Publikation von besonderem Interesse.
Wer sich von diesem Buch marktschreierische Enthüllungen aus dem Innenleben des Frankfurter Eurotower erwartet hat, wird enttäuscht sein. Wer jedoch eine kompetente und authentische Darstellung über den Weg zum Euro, zur Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB) und zu deren Geldpolitik sucht, wird einen faszinierenden Einblick in die schwierigen Entscheidungsprozesse einer der mächtigsten Institutionen unseres Kontinents erhalten und kann "an dem wohl spannendsten Ereignis der modernen Währungsgeschichte" (Vorwort, S. VI) teilnehmen.
Prof. Dr. Dr. hc. mult. Otmar Issing, der gebürtige Würzburger, der bis 1990 den Lehrstuhl für Volkswirtschaft an der Universität seiner Heimatstadt innehatte, danach als langjähriger Chefvolkswirt der deutschen Bundesbank und der EZB amtierte und derzeit viele Ämter (u. a. Vorsitzender des Kuratoriums des House of Finance, Uni Frankfurt, und Präsident des Center for Financial Studies) bekleidet, schildert in seinem Buch den schweren Abschied der Deutschen von der D-Mark und belegt ausführlich die Gründe, welche zum Erfolg des Euro und der EZB geführt haben. "Die Geburt des Euro ist ein singuläres Ereignis. Niemals zuvor haben souveräne Staaten ihre Kompetenz in der Geldpolitik auf eine supranationale Institution übertragen." (Vorwort, S. V)
Issing blickt zurück auf den steinernen Weg zur Währungsunion, die endgültige Entscheidung über die Verfassung sowie den Start der dritten Stufe der EWWU auf dem Gipfeltreffen in Maastricht (1991), den Konvergenzprozess und die Einführung des Euro im Januar 1999 in 11 Ländern der Währungsunion. Damit war das zweitgrößte Währungsgebiet der Welt, das alles andere als einen "optimalen Währungsraum" verkörperte, sozusagen mit einem Federstrich geschaffen worden. Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Statut, den Beschlussorganen und vor allem den Grundlagen der Geldpolitik der EZB. Dabei geht das einflussreiche frühere Mitglied des Direktoriums der EZB, zuständig während seiner Amtszeit für die beiden Generaldirektionen Volkswirtschaft und Forschung, ausführlich auf seinen wohl wichtigsten Beitrag zum erfolgreichen Euro ein: die Entwicklung der sog. "Zwei-Säulen-Strategie", d. h. die stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie der EZB, welche auf der monetären Analyse (dazu gehören Analysen der Geldmengenentwicklung sowie des Wachstums der Kreditaggregate) und der Analyse der Realwirtschaft (Größen wie das voraussichtliche Wirtschaftswachstum und erwartete Veränderungen des Preisniveaus) beruht und als Grundlage für geldpolitische Entscheidungen nutzt. Diese vollkommen eklektische Strategie ist eher für eine längerfristige Betrachtung in Teilen dem Monetarismus verpflichtet, während die ökonomische Analyse eher der kurzfristigen Betrachtung dient und den Anforderungen der neokeynesianischen Theorie am nächsten kommt. Allen Unkenrufen zum Trotz hat der vielköpfige EZB-Rat bislang alle geldpolitischen Entscheidungen im Konsens getroffen. Die befürchtete Spaltung dieses Gremiums aufgrund divergierender nationaler Interessen ist ausgeblieben.
Ein weiteres Kapitel zu prozessualen und funktionalen Parametern der Geldpolitik der EZB belegt zusätzliche Gründe für den in so kurzer Zeit bekannten Erfolg der attraktiven Gemeinschaftswährung von heute ca. 330 Millionen Menschen in derzeit 17 Staaten, mit dem kaum jemand rechnen konnte und der sogar frühere Euro-Kritiker positiv überraschte. Der Euro hat die europäische Integration auf eine neue Stufe gehoben und die EZB genießt zwischenzeitlich als Bollwerk währungspolitischer Stabilität international hohes Ansehen. Der Euro gilt heute als zweitwichtigste Reservewährung der Welt und fungiert daneben als beachtliche Anlage-, Anker- und Transaktionswährung.
Issing hat sich auch stets als Mahner vor Gefährdungen verstanden, denen eine unabhängige Zentralbank ausgesetzt ist. Für ihn gilt, dass nach allen theoretischen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen stabiles Geld unter einem Papierstandard nur über ein Statut zu gewährleisten ist, das der Notenbank Unabhängigkeit bei ihren Entscheidungen sichert und der Preisstabilität Vorrang gibt. In den beiden abschließenden Kapiteln geht er deshalb auf die nicht geringen Gefahren für den Euro ein und greift konkrete, insbesondere politische Risiken auf. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat nach Meinung des Verfassers "seine erste Bewährungsprobe nur sehr bedingt bestanden" (S. 171) und es bleibt abzuwarten, ob bzw. wie die Finanzpolitik der Mitgliedsländer die stabilitätsorientierte Geldpolitik der EZB zukünftig respektieren und unterstützen wird. Hinzu kommt, dass die Währungsunion mit dem Beitritt der neuen EU-Mitgliedsstaaten zweifelsohne heterogener wird, was bedeutet, dass das "one size fits all"-Thema eine neue Dimension erhält. "Die Annäherung an einen europäischen Wohlfahrtsstaat entfernt die Wirtschaft der Währungsunion jedoch weg von den Bedingungen, die für den Erfolg der einheitlichen Geldpolitik entscheidend sind." (S. 200). Issing macht in diesem Kontext deutlich, dass der Euro schonungslos wirtschaftspolitische Fehler und Versäumnisse seiner Mitgliedsländer offenbart.
Fazit: wer die Zukunft des Euro erkennen will, muss auf dessen Vergangenheit blicken! Deshalb ist die Lektüre dieser Publikation für Ökonomen, Banker und Politiker geradezu eine "wirtschaftspolitische Pflichtübung". Darüber hinaus kann dieses gut verständliche und sehr informative Buch - nicht zuletzt mit Blick auf die mit der Finanzkrise einhergehenden reichlichen Liquiditätszufuhr der Zentralbanken, welche zu Inflationssorgen führen wird - allen an der europäischen Geldpolitik Interessierten bestens empfohlen werden.
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