Literaturwissenschaft über Kulturgrenzen hinaus
Es sei gleich gesagt: sich mit diesem Werk zu befassen, ist Gewinn und Genuss. Da wird einem nämlich vorgeführt, wie man durchdacht schreibt, gehaltvoll formuliert und sich pointiert und verständlich mitteilt. Doch was ist das eigentlich, interkulturelle Literaturwissenschaft? In den Worten von Norbert Mecklenburg: "Interkulturelle Literaturwissenschaft gab und gibt es überall dort, wo Literaturwissenschaftler bei ihrer Arbeit Kulturunterschiede bedenken und über Kulturgrenzen hinausdenken. Solch ein Denken entspricht zwei Erfahrungen: das eine ist die Erfahrung einer Pluralität von Kulturen, das andere die Erfahrung Kulturen überschreitender Wirkung von Literatur."
Jede der in diesem Band versammelten Studien kann für sich gelesen werden, erfährt man aus dem Vorwort. Nehmen wir also deren drei, die interkulturelle Philosophie, die kulturellen und literarischen Universalien sowie die Übersetzung als interkulturelles literarisches Basisphänomens.
Mit dem, was zur Zeit in Europa unter interkultureller Philosophie läuft, geht der Autor recht harsch zu Gericht, mit zwei Ausnahmen: Jürgen Habermass und Elmar Holenstein.
"Halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren", schreibt etwa Franz Wimmer. Dazu Mecklenburg: "Man merkt die gute Absicht und ist über die Kurzschlüssigkeit der Regel verstimmt. Sie setzt aus missverstandener interkultureller correctness die Rationalität philosophischer Begründung und wissenschaftlicher Geltungsprüfung fahrlässig aufs Spiel." Er selber sieht eine Euroethnophilosophie am Werk, wenn etwa Heinz Kimmerle den afrikanischen Philosophen Wiredu ("Was uns vereinigt, ist fundamentaler, als was uns unterscheidet" - eine übrigens einigermassen banale Aussage) mit dem Argument kritisiert, solche Universalien würden bereits "durch ihre Herkunft aus der westlichen philosophischen Tradition ihre kulturelle Bestimmtheit" verraten. Kein Wunder, hält Mecklenburg, der u.a. auf die "intrakulturelle philosophische Vielstimmigkeit" hinweist, nicht gerade viel von solcher interkultureller Philosophie. Die Ausnahmen hat er, wie gesagt, in Habermas und Holenstein ausgemacht. Da der Autor letzterem wesentlich mehr Platz einräumt, soll kurz auf dessen "Philosophie der interkulturellen Verständigung" eingegangen werden. Für diese spricht übrigens nicht zuletzt, dass sie "nicht in systematischer Form, sondern nach dem Baukastenprinzip in einer Reihe von Aufsätzen" entwickelt worden ist. Seine Kulturtheorie lässt sich in vier Hauptthesen zusammenfassen: 1) Kulturen sind keine homogene, in sich abgeschlossene und klar voneinander abgehobene Einheiten. 2) Kulturen sind nach dem Baukastenprinzip aufgebaut, d.h. sie "bestehen nicht anders als Nervensysteme aus Teilbereichen, die relativ autonom sind." 3) Kulturen bestehen sowohl aus interkulturellen Kontakten (historischen Faktoren) als auch aus Universalien (anthropologischen Faktoren). 4) Viele Elemente und Strukturen lassen sich in allen Kulturen finden, womöglich in der einen Kultur ausgeprägter als in der andern, auch mag dies zeitlich varieren, denn schliesslich ist das Leben in ständiger Veränderung sowie im Austausch begriffen. Drei offene, pragmatische Regeln hat Holenstein aus seinen kulturtheoretischen Überlegungen (zwischen interkulturellen und intrakulturellen Verstehensproblemen, die immer intrasubjektiv sind, gibt es nur graduelle Unterschiede) abgeleitet: 1) das Prinzip der Fairness; 2) die Rationalitätsregel, die davon ausgeht, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick erkennbar sein mag, dass die gegenseitigen Äusserungen rational bezw. 'logisch' sind; und 3) die Personalitätsregel, die meint, dass man den andern als Person und nicht nur als Objekt wahrnimmt. Mecklenburg fügt die "It's better to assume nothing"-Regel bei, die in etwas weniger neutraler Sprache schon mal als "Don't ass u me" daherkommen kann.
Da Sinn und Zweck dieser Buchbesprechung nicht ist, den Inhalt möglichst kritisch widerzugeben, sondern auf das Buch neugierig zu machen, hier ein paar Auszüge, die ersten beiden aus dem Kapitel über die kulturellen und literarischen Universalien, der dritte aus dem Kapitel über die Übersetzung als interkulturelles literarisches Basisphänomen.
"Heute sind es aufgrund der grossen Verbreitung eines postmodernen Kulturrelativismus in Wissenschaft und intellektueller Öffentlichkeit der westlichen Welt die universalistischen Positionen, die sich kaum artikulieren können, ohne dass sie sofort als ideologisch verdächtigt werden."
"Nun ist Kulturrelativismus nichts weniger als eine klare Denk- und Wissenschaftsposition, vielmehr ein sehr schillerndes Phänomen. Die heute vorherrschende Form ist ein affirmativer Pseudo-Relativismus, der Indifferenz gegenüber Kulturen und globalen Zusammenhängen mit bequemem Kulturzentrismus verbindet. Pseudo-Relativismus relativiert alles, nur nicht die eigene Position."
"... zu bedenken, dass Kulturdifferenz nicht einfach eine Gegebenheit, sondern immer zugleich ein Konstrukt ist, sei es von seiten des Übersetzers, sei es des Übersetzungsforschers. Aus dem Munde eines türkischen Übersetzungsforschers habe ich einmal gehört, in der Übersetzung eines Kinderbuchs von Christine Nöstlinger ins Türkische dürfe das Wort 'Jeans' nicht übernommen werden, weil man in Anatolien andere Hosen trage. Diese Begründung beruht auf der Konstruktion eines Kulturunterschieds, die derart weltfremd, literaturfremd, kinderfremd wohl nur aus ideologischen Gründen ausfallen konnte. Zahlreiche Beispiele dafür, wie verschieden in der Übersetzungspraxis Kulturdifferenzen einbezogen und gegeneinander abgewogen werden können, liessen sich hier anschliessen - bis zu dem berühmten 'Seehundbaby Gottes' als zielkulturgerechtem Übersetzungsvorschlag für das 'Lamm Gottes' in einer Bibel für Eskimos."
Fazit: ein Buch, dem man viele Leser wünscht. Die männliche Form ist übrigens bewusst gewählt, schliesslich lesen Männer bekanntlich weniger als Frauen.
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