Nell Zink: Nikotin

Alles ist Signal

"Es un trabajo corto con un gran montón de mierda", meint Matt zu seinen angeheurten Arbeitern, die das "Nicotine" säubern sollen. "Eso es normaal. Estamos acostumbrados a mucha mierda.", erwidern diese. Wider erwarten geht es in diesem Buch nicht um’s Rauchen, sondern um ein besetztes Haus namens "Nicotine", das die junge Penny durch den Tod ihres Vaters Norman erbt. Als sie sich in einen der Hausbesetzer, den asexuellen Rob, verliebt, ist es auch klar, was sie mit ihrem Erbe anstellen möchte: mit Rob darin glücklich werden. Doch natürlich gibt es vor dem vereinten Glück noch ein paar Hindernisse zu überwinden: einen eifersüchtigen Bruder, eine Mutter, die die Tochter ihres Vaters ist und einige andere Hausbesetzer, die ihre eigenen Pläne haben. Bis Matt, Pennys Bruder, eine Geschäftsidee wittert. Die einen sehen ihr Glück eben im Geld verdienen und noch reicher werden, die anderen in sozialem Engagement. Egoismus ist beides. "Er flog davon wie ein Vogel, und ich bekam etwas so Schweres, das ich es kaum tagen kann", sagt Penny über ihren verstorbenen Vater.

Acid im Tiramisu

Ausgehend von einem unglücklichen Ereignis, dem Tod des Vaters, entwickelt Nell Zink eine witzige Slapstick-Geschichte im linken Hausbesetzermilieu von Upstate New York. Die ProtagonistInnen erstrahlen vor Leben, so authentisch sind die Beschreibungen von Zink gestaltet, dass man sich die Bewohner des Nicotine und des Romans geradezu bildlich vorstellen kann. Natürlich geht es dann doch irgendwie auch um’s Rauchen und die Statistik, dass jeder dritte Raucher an den Folgen des Rauchens auch stirbt und jeder zehnte an Lungenkrebs, mögen Rob wohl dazu bewegt haben, sich seinen Tabak selbst im Garten anzupflanzen und ihn zu kauen und zu spucken, statt zu rauchen. "Kunst wie in Kann-das-weg?", findet sich im Nicotine ebenso wie ein DJD (Donald Judd Daybed) ), worin sich die Hausbesetzer-WG abends zum Diskutieren versammelt. "Wenn die Zigaretten nicht wären, würdet ihr überhaupt keine Steuern zahlen", meint Penny zu ihren Genossen und beschreibt damit sehr treffend das Selbstverständnis der WG.

Aufregend authentisch

"Raucher sind arme ungebildete Menschen. Die ganze Werbung zielt auf sie, weil es Gift ist - .", Auffallend oft geht es auch um safer sex, in "Nikotin", denn das Wort Kondom wird in diesem Zusammenhang so oft erwähnt, dass man sich in einem Aufklärungsroman glaubt. Aber keine Sorge, wirklich PMP ist keiner. Aber aufgeklärt wird tatsächlich: nämlich darüber, dass auch ein anderes Leben möglich ist und man sich den Konsumzwängen des Kapitalismus zumindest für eine beschränkte Zeit auch entziehen kann. Aber natürlich nur solange, bis das liebe Geld ins Spiel kommt, dann wird es auch für HausbesetzerInnen schwer, sich ihre Würde zu bewahren. Aber "Inkompetenz bedeutet eben auch mehr Flexibilität".

"Nicotine" ist ein Roman, der an den Randzonen unserer Gesellschaft spielt und sich dann doch ins eigentliche Zentrum, das Herz des Kapitalismus spielt. Denn eigentlich haben ja doch alle dieselben Probleme: die Haves und die Have-Nots: alle müssen sie sterben. Und der Tod löscht alles aus. "Im Leben gibt’s nichts Unwesentliches. Es gibt kein Rauschen. Alles ist Signal." Überzeugend und bahnbrechend. Aufregend authentisch.

Nikotin
Michael Kellner (Übersetzung)
Nikotin
400 Seiten, gebunden
Rowohlt 2018
EAN 978-3498076702

Die Gegenwart einer Dystopie

Eine brillant geschriebene Dystopie, die sehr viel mit der Welt zu tun hat, in der wir bald (oder schon) leben.

Blue Skies

"Eine andere Welt war einst möglich"

Ein beeindruckender Roman und ein Blick zurück in das freieste Jahrzehnt der Menschheit: die Neunziger.

Stay True

Die Lüge als Konstante

Nach Jahren der Abwesenheit kehrt ein erfolgloser Drehbuchautor aus der Hauptstadt in sein Elternhaus auf einem fränkischen Dorf zurück und geht den Lebenslügen seiner Familie und der Liebe auf den Grund.

Villa Sternbald

Wirf dein Leben weg, such dir ein neues!

Wolfgang Martin Roth erkundet in seinem Roman eine sich selten bietende Gelegenheit. Ein Weg zum Glück?

Der Deutsche von Flug 111

Carlo Levis Diagnose für Deutschland

Carlo Levi berichtet über seine Reise in Deutschland 1958 und thematisiert die psychologischen und gesellschaftlichen Wunden, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat.

Die doppelte Nacht

Orientierungslos

Eine Schriftstellerin im Exil strandet auf einer Reise in einer fremden Stadt und nimmt diese Situation zum Anlass, ihr ganzes Leben über den Haufen zu werfen und den Schritt ins Unbekannte zu wagen.

Der Absprung