Giovanni Pascoli: Nester

Träume von einem fernen Land

Den Poeten Giovanni Pascoli (1855-1912) dürfen wir uns als behutsamen, feinfühligen und melancholischen Lyriker vorstellen, der die Natur liebte, ihre Schönheit kannte, aber auch den Dimensionen der Vergänglichkeit mit scheuer Teilhabe melodisch nachspürte. Vorsichtige transzendente Ahnungen, vielleicht nur Sehnsüchte, begleiteten ihn ebenso wie die tiefe Traurigkeit über unwiederbringliche Verluste.

Dem „schläfrigen Himmel“ geht Pascoli in einem frühen Gedicht nach, beschreibt Glockenklänge, deren Hymnus niemals verklingt, in der Nähe schallend, in der Ferne summend. Auch die Natur erklingt, in allen Tönen, doch eine „tiefere Stimme“ lässt aufmerken. Es ist die „Stimme aus dem Grab“, die alles menschliche Geschick, die Freude der lichtreichen Tage, zurechtzurücken scheint. Doch vergessen sei nicht, dass beide Stimmungen, viele Stimmen erklingen. Nur hat der Tod, die Grabesstimme, das letzte Wort? Der junge Dichter Pascoli gibt der Wehmut weiten Raum und zeigt Schattierungen der Erinnerung, wenn er über – der Band ist zweisprachig – „Il passato“ nachsinnt, die Welt von gestern:

 

„Ich seh die Orte, wo ich einmal weinte:
Das Weinen von einst sieht wie ein Lächeln aus.
Ich seh die Orte, wo ich damals lachte …
Oh! Ein Lachen, in Tränen getaucht!“

 

Jenseits der Verklärung liegt die Vergangenheit, die vom sich erinnernden lyrischen Ich neu modelliert und doch präzise erkannt wird. Wer zurückdenkt, erzählte seine eigene Geschichte, erfindet sie zuweilen neu, bildet sie um und deutet sie anders, aber die Selbsttäuschung vergeht, löst sich auf, wenn der Blick scharf erfasst und mit anderen Augen sieht, wie es an den fernen Orten anderer Zeiten wirklich gewesen ist. Mancher wird schlaflos darüber, grübelt sich in die Gespinste der Erinnerungen hinein, denkt an „junge Hoffnung oder alte Last“, ist der Wahrheit auf der Spur. Mit einem „gewaltigen Meer“ vergleicht Pascoli das Sich-Erinnern, und darin befindet sich eine „Muschel“, in deren Inneren die „Perle“ verborgen ist, die Wahrheit: „Ihr stellst du nach.“ Doch möchte der Nachsinnende die Wahrheit wirklich zu fassen bekommen? Die „Perle“ erscheint in Gestalt einer „schwarzen Katze“, als ein „verschleiertes Sphinxantlitz“ mit grünen Augen, undurchdringlich, bedrohlich vielleicht. 

Von Betern dichtet Pascoli, die auf „hartem Boden“ knien, nach droben schauen, nach Antworten suchen – und das dem Tod geweihte Kind, das gerade noch „das liebste seiner Spielgeräte“ sich „fest an das Herz gepresst hat“, nicht retten können und nur ratlos bleiben. Die Mutter erweist ihrem Sohn einen letzten Liebesdienst, wenn sie dem Kind, das „eisig kalt dann auf dem Kissen ruht“, ein letztes Mal den „schönen Schopf behutsam kämmt … um dir nicht wehzutun“.

Der „verlassene Himmel“ sei die „Heimat der Sterne“, die „einzige Heimat der Waisen der Welt“. Auch durch die Naturschilderungen klingt ein tiefer Pessimismus, ja die Resignation, denn grübelnde Menschen, verzweifelt sterblich, sagen von sich: „Wir sind wie Wellen, nicht mehr.“ Doch die Traurigkeit triumphiert nicht, zumindest nicht ganz, ist doch jede Ernte noch immer eine „Wonne“, wenn an vielen Trauben nicht ein einziges „faules Korn“ erblickt wird. Das Wissen bleibt: „Das Schöne ist schön, doch von kurzer Dauer.“ Am Schönen darf man sich gleichwohl freuen, dankbar dafür sein. Niemand muss sein „klägliches Nest“ auf der Erde beweinen, ein jeder darf, so gut er kann, hinauffliegen, so rät Pascolis „Lerche“, „um deinen Schrei in die Sonne zu schmettern“. Auch Träume, Tagträume zumal, mögen beleben und das trübsinnige Gemüt aufhellen:

 

„Ein Flöten ertönt, ein Geprassel,
behaglich, einsam, echolos.
Zwischen Feldern aus rotem Blattklee,
zwischen Feldern aus gelbem Bockshorn,
da stehe ich; ich stehe auf einem flachen Hang,
wo Kirchen lichthell dem Grün entsprießen;
ich finde mich wieder in einem süßen
fernen Land.“

 

Dieses „ferne Land“ der Phantasie und Poesie, zuweilen auch der Erinnerung, besingt der gefühlvolle Poet Giovanni Pascoli wider alle Schwermut, mit der seine Gedichte bezeichnet sind. Ist dieses „ferne Land“ ein Hoffnungszeichen? Oder nur eine Traumlandschaft? Sich wiederzufinden in einem solchen Paradies, in dem Himmel und Erde sich zu berühren scheinen, wäre wunderbar – für traurige Dichter vergangener Zeiten nicht anders als für alle Leserinnen und Leser, die das Werk von Giovanni Pascoli heute für sich entdecken möchten. 

Nester
Theresia Prammer (Übersetzung)
Nester
448 Seiten, gebunden
Originalsprache: Italienisch
Wallstein 2024
EAN 978-3835357099

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