Vom Osmanischen Reich zum türkischen Nationalstaat
Özdogans Untersuchung basiert auf einer kritischen Auseinandersetzung mit der modernen Nationalismusforschung, die er im ersten Teil des Buches ausführlich darstellt. In der bisherigen Forschung verdunkelt seiner Auffassung nach die "Dominanz der typologisierenden Ansätze in geschichtswissenschaftlich orientierten Forschungsarbeiten zum Thema Nationalismus den Blick auf die Gemeinsamkeit der nationalistischen Begründungsstrategien" (S. 40).
Der Autor vertritt die These, der politische und gesellschaftliche Nationalismus habe seine volle Bedeutung erst im 19. Jahrhundert infolge der Industrialisierung erlangt. "Im Zuge des Prozesses, in dem es den aufsteigenden Mittelklassen in einem europäischen Land nach dem anderen gelang, die Stellung der herrschenden Schichten einzunehmen, verlor die Vorstellung der Nation allmählich ihre in der Französischen Revolution geprägten emanzipativen Züge." (S. 71) Der Industrialisierungsprozess habe eine neue kulturelle Homogenität erforderlich gemacht, welche wiederum die gesellschaftliche Integration der subalternen Klassen gewährleistet habe. Staat und Gesellschaft wurden so als "kulturell homogene Einheit" konstruiert, "woraus der Nationalismus als eine Bestrebung resultierte, die Übereinstimmung im Inneren sowie die Differenz zum Äußeren zu bestimmen." "Die Zerstörung der traditionellen Gesellschaftsstrukturen durch die Industrialisierung und der Niedergang der Religion, die nicht mehr das System war, in dem die Menschen die Erfüllung ihres Verlangens nach einer glücklichen Welt sahen, haben die Durchsetzung des modernen Herrschaftssystems [...] begünstigt." (S. 107) Auch die Emotionen der Menschen wandten sich weg von der Religion hin zur nationalen Gemeinschaft, der Autor spricht von einer "libidinösen Fixierung".
Im zweiten Teil des Buches analysiert der Autor den Weg Anatoliens vom Osmanischen Reich zum türkischen Nationalstaat. Dabei sind erhebliche Unterschiede zur Entwicklung der europäischen Gesellschaften und Staaten erkennbar: In der Türkei leitete eine nationalistische Elite "durch administrative Maßnahmen die Modernisierung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen ein." (S. 166) Die Entwicklung verlief also genau umgekehrt als in den europäischen Staaten: In der Türkei ging die Genese des Nationalstaates der Genese einer bürgerlichen Gesellschaft zeitlich voraus. Der Bevölkerung war "die Imagination einer türkischen Nation, die sich für die nationalistisch gesonnene intellektuelle Elite" Anfang des 20. Jahrhunderts "allmählich verdichtete", vollkommen fremd (S. 164). Ein interessanter Aspekt sind dabei die Abschaffung der arabischen Schrift und die Sprachreform. Damit wurde ein radikaler Bruch mit der eigenen Geschichte und Kultur vollzogen. Da die arabische Schrift von einer "Aura der Heiligkeit" umgeben ist (S. 182), richtete sich die Übernahme der lateinischen Buchstaben gegen die islamische Identität der Gesellschaft, die den Zusammenhalt des Osmanischen Reiches gewährleistet hatte. Entsprechend erregten sich die Gemüter in der gesamten islamischen Welt. Die Identität von Religion und Sprache bzw. Schrift wurde in Frage gestellt. Die Einführung einer reformierten türkischen Sprache auf der Grundlage der Volkssprache und alttürkischer Schriften sowie die Abschaffung des Osmanischen, das nur von einer schmalen Elite gesprochen und geschrieben worden war, richtete sich direkt gegen das Osmanische Reich. Die "gesamte schriftliche Kulturwelt des Osmanischen Reiches wurde fast über Nacht für die folgenden Generationen unverständlich. [...] Die nationalistische Elite setzte erfolgreich darauf, dass sich die jüngere Generation nur noch mit in lateinischer Schrift verfasstem Gedankengut auseinandersetzen würde. [...] Die nationalistische Elite hatte erkannt, dass der Wandel des religiös begründeten Zusammenhalts, der nicht zuletzt auf der arabischen Schrift selbst beruhte, zugunsten einer als begrenzt vorgestellten Nation ohne eine Abschaffung dieses Mediums nicht zu bewerkstelligen war." (S. 181f) Der neue türkische Nationalstaat verzichtete somit freiwillig "auf jegliche Quellen einer religiösen Legitimierung" (S. 187) zugunsten des Ziels, einen modernen bürgerlichen Staat nach europäischem Vorbild aufzubauen. Die Legitimationsgrundlage der Macht sollte nun das Volk sein. Gleichzeitig war es Ziel dieser Elite, die "affektive Besetzung" des Islam und die Bedeutung des religiös-traditionellen Wertesystems zu reduzieren, da ihnen bewusst war, dass sonst der Nationalstaat keine Anziehungskraft auf das Volk ausüben würde (S. 203).
Die Anstrengungen der nationalen Elite, die Symbole des Osmanischen Reiches durch neue Symbole zu ersetzen, beschränkte sich jedoch nicht auf Schrift und Sprache. Auch die Architektur und sogar die Musik spiegeln diese Bemühungen wider. Stilistische Elemente der osmanischen Zeit, wie z.B. die Kuppelform, wurden abgelehnt. "Die scheinbar funktionsorientierte, zweckgebundene Architektur war wohl der überzeugendste Weg, um dem Angriff gegen die Vergangenheit Immunität gegen jegliche Kritik zu verleihen. Die Evozierung der zweckrationalen Architektur nach 1927 war durch und durch von einer Zerstörungswut geprägt, die nur im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang des kulturellen und sozialen Wandels verständlich wird." (S. 245) Ebenfalls abgelöst werden musste Istanbul als Hauptstadt: "Alles was Istanbul mit seiner Architektur und seinen repräsentativen Gebäuden, Villen und Palästen, mit seinem kosmopolitischen und vielfältigen kulturellen und sozialen Leben in Erinnerung rief, stand mit dem Osmanischen Reich [...] in Zusammenhang." (S. 235). Ankara wurde nicht nur deshalb als Hauptstadt ausgewählt, weil es in Zentralanatolien liegt, sondern weil es ein unbeschriebenes Blatt war und nicht wie Izmir oder Bursa bereits Urbanisierungsphasen aus vornationaler Zeit hinter sich hatte.
Regelrecht mit Gewalt wurde die Verschleierung zurückgedrängt und das Verbot des Fez durchgesetzt, der durch Hüte mit einer Krempe, eine "Kopfbedeckung mit Rand und Schirm", wie Atatürk ihn nannte, ersetzt wurde. Obwohl der Fez keine typisch muslimische Kopfbedeckung war, ließ er sich nämlich im Gegensatz zum europäischen Hut mit dem rituellen Gebet, bei der die Stirn den Boden berühren soll, vereinbaren.
Interessant ist die kritische Schlussbetrachtung des Autors, der aus seiner Analyse folgert: "Hätte die Transformation sich nicht allein als eine elitär inszenierte Neugestaltung, sondern von unten, in kritischer Auseinandersetzung mit Gegebenem entfalten können, hätte die türkische Gesellschaft sich mit Sicherheit viele der gegenwärtigen drängenden Fragen erspart [...]. An diesen Fragen droht die Gesellschaft immer wieder zu zerbrechen [...]. Handlungsleitend sind für nahezu das gesamte Spektrum der politischen Elite [...] zwar die Nationalkultur und die nationalen Wahrnehmungsmuster, aber nahezu alle Akteure sind sich [...] darin einig, dass die zentralen Probleme der Türkei, seien es die Rolle des Islam in Politik und Gesellschaft, die Frage der Menschenrechte, die Kurdenfrage oder allgemein die Minderheitenfrage, ihre Wurzeln eher >draußen< haben als in der eigenen Geschichte." (S. 297)
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