Unzeitgemäße Betrachtungen über Politik
Klaus von Dohnanyi, geboren 1928, hat den Zweiten Weltkrieg aus nächster Nähe erlebt. Präzise analysiert der Jurist, der unter anderem in den 1980er-Jahren Erster Bürgermeister der Stadt Hamburg war, politische Entwicklungen und stellt stabile Denkmuster souverän und nüchtern infrage. Dieses Buch wurde vor Beginn des Krieges in der Ukraine verfasst – mitnichten aber ist diese hellsichtige, gewiss auch provokative Streitschrift ein Beitrag aus der Welt von gestern. Vielmehr stellt Dohnanyi unzeitgemäße Betrachtungen an, mit denen er bewusst und nüchtern die Signaturen der Zeit in den Blick nimmt und kritisiert.
Dohnanyi spricht über das Jahr 2021, erwähnt das "außenpolitische Desaster in Afghanistan", die Corona-Pandemie und den Klimawandel. Insbesondere in ökologischer Perspektive bezeichnet er eine "intensivere Zusammenarbeit der Großmächte" als wünschenswert und nennt die USA, China und Russland. Der Klimawandel verursache "erhebliche Schäden an der Bewohnbarkeit unseres Globus" und befördere die Migration: "Aber die Europäische Union zeigt sich hier wie so oft nicht handlungsfähig. Wir widmen der Lösung dieser für unseren Kontinent existenziellen Frage nicht annähernd die Aufmerksamkeit, die unsere deutschen Medien täglich den innenpolitischen Entwicklungen in Russland und China angedeihen lassen, doch dort werden wir kaum Einfluss haben."
"Auch wer menschliches Zusammenleben fruchtbar machen will, kann das nicht, ohne den Partner zu verstehen. Und wenn ein anderer feindselig zu sein scheint, gilt das doch erst recht."
Die Aufgabe der Staaten heute sei es, "in gemeinsamer Arbeit die Richtung einer Welt im Umbruch zu gestalten" und die nationalen Interessen dabei zu berücksichtigen, in einem "System internationaler Kooperation" zu verankern seien: "Wir Deutsche müssen versuchen, Frankreich oder Italien ebenso zu »verstehen« wie auch die USA oder die Russische Föderation, wie Präsident Biden, Putin oder Xi. Auch wer menschliches Zusammenleben fruchtbar machen will, kann das nicht, ohne den Partner zu verstehen. Und wenn ein anderer feindselig zu sein scheint, gilt das doch erst recht." Dohnanyi also plädiert nicht für moralische Obertöne und Deklarationen, sondern für nüchterne Analysen. Nun mag man heute fragen: Hat nicht der Krieg in der Ukraine das alles infrage gestellt? Das aber ist nicht der Ansatz dieses politischen Analytikers. Es gelte, die Interessen anderer Nationen und ihrer Regierungen zu verstehen – ungeachtet der jeweiligen Staatsform, um das "Fundament des Handelns dieser Staaten zu begreifen, um dann unser Handeln so vernünftig wie möglich daran auszurichten". Dezidiert Kritik übt Dohnanyi etwa an den USA: "Die Verschleierung ihrer Machtinteressen mit humanitären Argumenten hat in den USA Tradition und darf uns nicht täuschen: Die Interessen der USA sind immer hart geopolitisch, ökonomisch und tief verwurzelt in ihrem Selbstverständnis als »exceptional nation«, also als einzigartige Nation." Die "Weltmacht USA" habe nie den Europäern ein "Recht auf Mitsprache" zugestanden. Dohnanyi fordert Realitätssinn und schreibt, dass dieses machtpolitische Agieren durchaus verständlich sei, "so verstehen und vertreten Weltmächte eben ihre nationalen Interessen im globalen Wettbewerb". Er bemerkt zugleich: "Aber wir müssen es in unserer Politik bedenken." Das alles ist vielleicht ein wenig zu allgemein formuliert. Zwar mahnt Dohnanyi, dass Russland nachdrücklich gedrängt werden müsse, die Menschenrechte zu respektieren, wozu es als UN-Mitglied auch verpflichtet sei, aber er warnt zugleich – wenige Monate vor dem Ukraine-Krieg – vor der Illusion, "Russland mit Sanktionen" zu belegen. Sicherlich sind viele Gedanken und Überlegungen in diesem Buch, die im Jahr 2021 entstanden sind, nun überholt. Putin, so Dohnanyi, werde als "machtpolitischer Nationalist" gesehen: "Aber niemand von uns im Westen, der ihn nicht als Russe in Russland erlebt, kann ihn und seine innenpolitischen Wege wohl wirklich verstehen. Ist es dann besser, ihn vorsichtshalber für gefährlicher zu halten, als er sein mag? Richten wir uns am sichersten militärisch auf einen gefährlichen Putin ein? Wir wollen aber Sicherheit gegenüber Putin; die bisherige Politik der Konfrontation vonseiten des Westens hat diese jedenfalls nicht erbracht. Könnten wir nicht statt der ständigen Dämonisierung Putins einfach mit einer normalen menschlichen Erfahrung beginnen: Nur im Dialog kann man erkennen, was der andere will und wo gemeinsame Fortschritte möglich wären. Also muss man reden und sollte Gespräche nicht blockieren!" Denken wir im Herbst 2022 darüber nach: Hat sich Russlands Präsident Putin als ein machtpolitischer Nationalist erwiesen? Wie würden Sie darauf antworten? Auch eine Frage wie diese ließe sich heute – in Zeiten des Krieges – neu stellen: Wer ist eigentlich gesprächsbereit? Sind ernsthafte diplomatische Kontakte und das Bemühen um Frieden in Europa heute möglich? Europa, so schreibt Dohnanyi im Spätherbst 2021, "sollte versuchen, diesen Weg der Diplomatie auch mit Russland zu gehen, notfalls ohne die USA": "Denn ob es Europa gelingen kann, die USA endlich von einer Russlandpolitik zu überzeugen, die nicht nur im Interesse Europas, sondern auch im wohlverstandenen Interesse der USA selbst wäre, erscheint mehr als zweifelhaft." Ist heute eine solche diplomatische Initiative überhaupt noch denkbar? Und wer ist eigentlich "Europa"? Klaus von Dohnanyi denkt im Herbst 2021 nicht an den Krieg, der im Februar 2022 Realität wurde: "Jetzt ist die Nato beunruhigt über russische Truppenansammlungen an der Ostgrenze der Ukraine. Beabsichtigt Putin den Einmarsch in die Ukraine? Putin bestreitet diese Absicht – heute!" Wir wissen, dass der Krieg in der Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen hat – ohne dass, wie Dohnanyi spekulierte, die "Ukraine endgültig in die Nato aufgenommen" wurde. Dennoch gilt vielleicht zu erwägen, was unter anderen Vorzeichen schon ratsam gewesen wäre: "Es wird eine bedeutende Aufgabe für Frankreich und für eine neue Regierung in Deutschland sein, das Ukraine-Problem so bald wie möglich konstruktiv mit den USA und Russland zu beraten. Denn würden erst einmal Fakten geschaffen sein, würde sich die Lage kaum noch reparieren lassen." Das Faktum ist nun nicht der Nato-Beitritt der Ukraine, sondern der seit Monaten dort herrschende Krieg.Dohnanyi wirbt für eine "europäische Diplomatie". Hat die Diplomatie gegenwärtig eine Chance? Das gemeinsame Suchen nach Frieden in Europa ist heute wichtig und wesentlich, ein legitimes nationales Interesse – aber, so muss man ernsthaft überlegen: Fast jeder Mensch wünscht sich Frieden, aber wer strebt wirklich danach und arbeitet dafür? Klaus von Dohnanyi plädiert für ein souveränes, selbstbewusstes Europa. Er sieht aber auch die ökonomischen Bedingungen, auf denen die Gesellschaft beruht. Ohne "wirtschaftliche Stabilität", so schreibt er nüchtern und ernüchternd, gebe es auch "keine demokratische Stabilität" und fragt: "Ist Europa hier auf dem richtigen Weg?" Ist die politische Stabilität in der Europäischen Union heute gefährdet? Kennen Sie darauf eine Antwort? Ich nicht. Am Ende des Jahres 2022 bleiben viele politische Fragen offen, die auch der meinungsfreudige Klaus von Dohnanyi sehr wahrscheinlich nicht beantworten kann.
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