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Nassim Nicholas Taleb: Antifragilität

Die Logik des Flexiblen

"Antifragilität" ist ein umfangreiches Buch, fast 700 Seiten dick; mir gefällt der Untertitel, weil ich ihn verstehe, der Haupttitel sagt mir weniger zu, nicht zuletzt, weil ich ihn zuerst gar nicht verstand und möglicherweise auch deswegen, weil ich immer noch nicht ganz sicher bin, ob ich ihn wirklich verstehe. Auch fragte ich mich, ob da einer wieder einmal ganz besonders originell sein wollte und dafür habe ich so ziemlich Null Sympathie. Doch das war, bevor ich zu lesen angefangen habe

Schon auf den ersten Seiten stiess ich dann auf Sätze, die meine vollste Sympathie haben:
"In der Vergangenheit brachten es nur Menschen, die Risiken auf sich nahmen und bereit waren, für die Folgen ihrer Handlungen einzustehen, zu hohem Rang oder Ansehen; wer dasselbe zum Wohle anderer tat, galt als Held. Heute ist genau das Gegenteil der Fall. Wir erleben das Aufkommen einer neuen Klasse invertierter Helden: Bürokraten, Banker, die sich in Davos tummelnden Mitglieder der IAND (International Association of Name Droppers) und Akademiker mit zu viel Macht und bar jeder Verantwortlichkeit. Sie zocken das System ab, und die Bürger zahlen die Zeche."
"Das Leben ist unendlich viel labyrinthischer, als unser Gedächtnis uns weismachen will - unser Verstand wirkt darauf hin, Geschichte in etwas Glatt-Lineares zu verwandeln, und daher unterschätzen wir die Rolle des Zufalls. Und wenn wir damit konfrontiert sind befällt uns Angst, und es kommt zu Überreaktionen (...) Wer bewusst Ordnung anstrebt, erzielt lediglich eine Pseudo-Ordnung; ein gewisses Mass an wahrer Ordnung und Kontrolle über die Dinge erlangt nur, wer den Zufall bejaht."

Doch was meint Taleb mit Antifragilität? Das Gegenteil von fragil sei nicht robust, argumentiert er, sondern antifragil. "Fragil ist ein Paket, das im besten Fall vor Schäden bewahrt würde. Das robuste Paket bliebe im besten und im schlechtesten Fall wie es ist. Und das Gegenteil des Fragilen ist demgemäss das, was im Idealfall nicht vor Schäden bewahrt wird." Dass es kein eigenes Wort für das Gegenteil von fragil gibt, ist zwar schon etwas eigenartig, doch so eigenartig dann auch wieder nicht, denn für vieles, das wir wissen, haben wir keine Worte.

Schon einmal von "posttraumatischem Wachstum" gehört? Es handelt sich dabei um das Gegenteil des posttraumatischen Stresssyndroms und meint, dass Menschen aufgrund belastender Ereignisse in ihrer Vergangenheit über sich selbst hinauswachsen. "Leiden bildet den Charakter" heisst es im Volksmund oder eben "Was dich nicht umbringt, macht dich stärker".

Auch dass man aus den Fehlern der anderen lernen kann, weiss man. Fragt sich nur was, und wie man das tut, denn so allgemein ist der Satz nämlich falsch. Dazu Taleb: "Jeder Flugzeugabsturz verringert die Wahrscheinlichkeit des nächsten Flugzeugabsturzes, wohingegen jeder Bankenzusammenbruch die Wahrscheinlichkeit des nächsten Bankenzusammenbruchs erhöht. Wir müssen die zweite Irrtumsvariante - diejenige, die sich durch Ansteckung verbreitet - aus unserer Konstruktion eines idealen sozio-ökonomischen Systems entfernen."

Das Wahre vom Bequemen zu unterscheiden, erfordere Mut, habe ich letzthin gelesen. Dieser Gedanke findet sich auch bei Taleb, der dafür den Römer Staatsmann Cato Censorius anführt, der gemeint hat, "ein abgesichertes Leben voller Annehmlichkeiten führe direkt ins Verderben. Er mochte es gar nicht, wenn es ihm zu gut ging, da er befürchtete, damit seine Willenskraft zu schwächen." Überhaupt finden sich in diesem Werk viele Bezugnahmen auf die abendländische Geistesgeschichte und vor allem auf die alten Griechen. Eine treffende Abkürzung dafür wäre TAND - Talebs Art of Name Dropping.

Anstatt dauernd zu versuchen, die Dinge des Lebens in den Griff zu kriegen und damit zu kontrollieren, sollten wir genau das Gegenteil tun: uns dem Leben und damit den Zufälligkeiten des Lebens hingeben. Und genau dies haben wir verlernt. Als es noch keine geteerten Strassen, sondern nur Naturstrassen gab, musste der Mensch bei jedem Schritt aufpassen, wo er hintrat, heute muss er das nicht mehr, er kann sich auf die stabile, gleichförmige und ihm damit Sicherheit vermittelnde Teerunterlage verlassen. Wer einmal bei einem Erdbeben auf einer geteerten Strasse gestanden ist, weiss, dass diese Sicherheit eine vermeintliche ist.

Charakteristisch für dieses Buch ist, dass es ganz viele Gewissheiten in Frage stellt. Dass der Zentralstaat Frankreich wirklich zentral regiert werde, zum Beispiel. Oder dass Schweden "ein monströs ausgedehntes Staatswesen" habe, das den Handlungsspielraum der Menschen extrem einschränke.

Bei vielen Beispielen aus der Finanzwelt weiss ich nicht so recht, was ich davon halten soll, aus dem einfachen Grund, weil mir das einschlägige Hintergrundwissen fehlt. Wenn Taleb hingegen auf die Schweiz zu sprechen kommt, sieht das etwas anders aus, da weiss ich recht gut, wie ich seine Argumente einzuschätzen habe. Die Schweiz sei "der antifragilste Ort unseres Planeten; sie profitiert von den Erschütterungen, die sich ausserhalb ihrer Grenzen zutragen" und produziere "Stabilität, langweilige Stabilität, auf jeder denkbaren Ebene." Für einen Schweizer, abgesehen davon, dass man das Ganze "antifragil" nennt, sind das nicht unbedingt neue Erkenntnisse. Taleb schreibt auch, dass akademische Bildung in der Schweiz im Vergleich zum Ausland eine untergeordnete Rolle spiele. Auch wenn das lange Jahre so war, so wäre ich mir da heutzutage nicht mehr so sicher, denn mittlerweile gibt es in Helvetien höhere Schulen wohin man auch schaut.

Talebs Ideen und Vorschläge sind immer bedenkenswert, auch wenn einem sein monumentales Ego, seine Besserwisserei und Arroganz ganz schön auf die Nerven gehen können. So bezeichnet er etwa Hillary Clinton als eine Politikerin "der schlichteren Art" und charakterisiert Alan Greenspan und Gordon Brown als Iatrogenisten (das kommt aus dem Griechischen und wird im Buch erklärt ...). Eingenommen für den Autor hat mich hingegen, dass er sich selber als Autodidakt versteht, was nicht etwa meint, dass er nicht zur Schule gegangen ist (er hat seine Abschlüsse gemacht), sondern dass er alles Wissenswerte sich nicht in der Schule angeeignet hat (... damals dämmerte mir, dass die Schule eine Veranstaltung sein muss, die es böswillig darauf anlegt, Menschen ihrer Gelehrsamkeit zu berauben, indem sie ihr Wissen in ein enges Korsett zwängt.").

Wirkliche Bildung (im Sinne von Charakter- und Persönlichkeitsbildung), so Taleb, schätzt Unordnung. Der Mensch sucht und schafft sich jedoch Ordnung. Sähe er sich genau an, was in der Natur vor sich geht, würde er entdecken, dass es in der Natur eine Logik gibt, die der unseren weit überlegen ist - und es ist diese Logik des Flexiblen, Anpassungsfähigen oder Antifragilen, die wir zu begreifen versuchen sollten

Fazit:"Antifragilität" ist ein wunderbar anregendes Buch. Gut möglich, dass ich es ganz anders verstanden habe, als Nassim Taleb es gemeint hat.


von Hans Durrer - 16. Juni 2013
Antifragilität
Nassim Nicholas Taleb
Susanne Held (Übersetzung)
Antifragilität

Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen
Knaus 2013
Originalsprache: Englisch
688 Seiten, gebunden
EAN 978-3813504897