Vielfalt und Wendepunkte im Nahen und Mittleren Osten
Die in diesem Buch verarbeiteten Eindrücke aus dem Nahen und Mittleren Osten einschließlich Israels halten den Stand des Herbstes 2005 fest. Allerdings enthält dieses Taschenbuch im Gegensatz zur Originalausgabe des Jahres 2006 ein ausführliches Vorwort, in welchem der ausgewiesene Berliner Nahostexperte Volker Perthes auf aktuelle Entwicklungen eingeht. Da deutschsprachige Medien eher punktuell hinsichtlich aktueller Krisen, weniger hinsichtlich langfristiger Entwicklungen informieren, liefern diese "Promenaden" ausgesprochen interessante Hintergrundinformationen und Beobachtungen aus dem Alltag, mit deren Hilfe man die aktuellen Nachrichten besser einordnen und Entwicklungen nachvollziehen kann. Natürlich sieht die Lage im Gaza-Streifen inzwischen anders aus als Ende 2005, dennoch ist es aufschlussreich, wie der Autor bereits den vorhergehenden Zustand beschreibt: ein Versagen der Palästinensischen Autorität auf dem entscheidenden Gebiet, Ordnung und Sicherheit für die Bürger aufrecht zu erhalten. Hamas und Aqsa-Brigaden ließen sich schon damals von den regulären Sicherheitskräften nichts sagen, die Hamas war besser bewaffnet als die Polizei und übte Selbstjustiz; junge Männer, die sich während der Kriegsjahre bewaffneten Organisationen anschlossen, behielten ihre Waffen nach deren Ende und verlangten einen respektablen Job, für den sie nicht qualifiziert waren und den ihnen niemand bieten konnte; insgesamt ein "sicherheitspolitischer Zusammenbruch" (S. 126). Angesichts der bereits damals offensichtlichen Islamisierung des alltäglichen Lebens - "saudische" Gesichtsschleier bei manchen Frauen, keine Kinos, keinen Alkohol mehr in den Restaurants, keine Frauen mehr bei öffentlichen Veranstaltungen, höchstens noch eine vereinzelte Professorin mit dem vorgeschriebenen Kopftuch - fragte sich der Besucher gelegentlich, "ob sich überhaupt etwas verändern würde, wenn Hamas den Stadtrat oder die Regierung im Gazastreifen übernähme." (S. 124) Weiter verschlechtert hat sich seither natürlich die Sicherheit der Bewohner des Gaza-Streifens.
Die zweite Intifada habe den Palästinensern nichts als Nachteile gebracht, diese Ansicht bekam Perthes mehrfach von Interviewpartnern aus der Westbank zu hören: ein Klima der Gewalt innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, palästinensische Städte ummauert und wiederbesetzt, hohe Arbeitslosigkeit durch die erschwerte Einreise nach Israel, wirtschaftlicher Niedergang. Damit ist die Chance, einen funktionsfähigen Palästinenserstaat aufzubauen, gesunken.
Interessant sind auch die Impressionen aus Israel, wo der Autor von verschiedenen Gesprächspartnern die Ansicht hört, die israelische Gesellschaft sei innerlich so gespalten und heterogen, dass sie ohne den existentiellen Konflikt mit ihren arabischen Nachbarn auseinander zu brechen drohe.
Saudi-Arabien wird als Land beschrieben, dessen Stärke es ist, den Kompromiss zwischen widerstreitenden Kräften, nicht die Konfrontation zu suchen. Allerdings vollziehen sich die von niemandem bestrittenen Reformen und Entwicklungen extrem langsam - ein "Schritt nach vorn, gefolgt von mindestens einem halben zurück" (S. 216). 1977 wurde ein Kommunalgesetz erlassen, das Wahlen vorsah, an deren Durchführung man sich dann im Jahr 2005 machte - nur für Männer. Viele von Perthes’ Gesprächspartner äußerten die Ansicht, die Zustände im Königreich seien nicht primär mit dem Islam zu rechtfertigen, wie das im Westen vielfach angenommen wird, sondern beruhten einerseits auf Traditionen der lange Zeit von fremden Einflüssen abgeschnittenen Bevölkerung, andererseits auf Entscheidungen der Herrscher. Der Islam und auch die Scharia ließen jedoch Veränderungen, inklusive einer Besserstellung der vielfach diskriminierten Frauen, durchaus zu.
Hinsichtlich des Nachbarlandes Irak beschränkt sich Perthes auf den Besuch der kurdischen Provinzen, um dann in den Iran weiter zu fahren, wo der Reisende aufatmen kann: "Kermanshah [ist] eine malerisch vor einem Bergmassiv gelegenen überwiegend kurdischen Stadt, deren gepflegte Straßen und Parks dem aus dem Irak Einreisenden das Gefühl geben, wieder in einem Land mit langer, ziviler Tradition und Bürgersinn angekommen zu sein." (S. 321f) Im Gegensatz zu den Kurden Iraks herrschen bei der kurdischen Volksgruppe in Iran auch keine separatistischen Bestrebungen vor, hier bekommt der Autor die Ansicht zu hören, Iran sei ein "großartiges Land", wenn man sich auch vom Ayatollah-Regime distanziert. In gesellschaftlicher Hinsicht beschreibt Perthes Iran als von einer bildungsorientierten Mittelschicht geprägt. Die Stimmung der Menschen gegenüber den USA schildert er als - im Gegensatz zur offiziellen Amerika-Feindlichkeit - als gar nicht so feindselig. Die USA genießen in Iran "höhere Sympathiewerte" als in allen anderen Ländern des Mittleren Ostens (S. 344). "Letztlich sind sich alle einig, dass jede Regierung, der es gelingt, die Beziehungen zu den USA zu verbessern, sehr populär wäre." (S. 345) Mit Erstaunen liest man weiter, dass Arabisch, obwohl es die Sprache des Korans ist, die jeder Schulpflichtige mindestens sechs Jahre lang lernen muss, in Iran nur mit Widerwillen oder gar Verachtung gesprochen und von den wenigsten sicher beherrscht wird - passiver Widerstand gegen die Tendenz der religiösen Elite, die persische Hochkultur zur rein islamischen Kultur umzudefinieren und damit auch zu reduzieren.
Die wirtschaftlichen Probleme Irans sind selbstgemacht, und zwar im mit ca. 70% sehr hohen Staatsanteil an der Wirtschaft begründet. Die infolge der islamischen Revolution verstaatlichten Betriebe entziehen sich allerdings der Kontrolle der gewählten iranischen Regierung, sondern gehören religiösen Stiftungen, die von der geistlichen Elite geführt werden.
Insgesamt handelt es sich bei diesem Buch um eine spannend geschriebene Lektüre mit hintergründigen Informationen und persönlichen Erfahrungen.
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