Miteinander leben
Die Polarisierung zwischen Gläubigen und auch säkular orientierten Mitgliedern hat eine lange Geschichte. Die Verbindungslinien der abrahamitischen Weltreligionen sind groß, die gegenseitig erhobenen Vorurteile – medial geschürt und politisch instrumentalisiert – noch sehr viel weitreichender. Der Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 markierte eine neue Eskalationsstufe der Gewalt und verschärfte den Nahostkonflikt weiter. Ist Frieden möglich? Bestehen Aussichten auf Verständigung? Die in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ seit dem Sommer 2021 publizierten Kolumnen des muslimisch-jüdischen Ehepaares Saba-Nur Cheema und Meron Mendel geben auf solche Fragen keine Antwort, brechen aber klug, humorvoll und nachdenklich stabile Denkmuster und -gewohnheiten auf.
Die Autoren, die Politologin Saba Cheema und Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, werden im Herbst 2023 auch zu ihrem eigenen Erstaunen zu einem „Vorzeigebeispiel für das Miteinander in der polarisierten deutschen Gesellschaft“. Der Nahostkonflikt findet neu Einzug in das kulturelle und akademische Leben, der Krieg führt zu Unterscheidungen und Einseitigkeiten, so als ob es „homogene Gruppen“ wie „propalästinensische Muslime“ und „proisraelische Juden“ gäbe. Holzschnittartig wurde und wird in den Medien gearbeitet, so entstehen Feindbilder und Feindseligkeiten. In aufgeregten Zeiten wie diesen – ein Empörungsrausch jagt den nächsten – werden Meinungen aufgebracht und verstärkt, als gäbe es eben den Juden, den Muslim, so natürlich auch den Christen und den säkular gesinnten Zeitgenossen. Juden und Muslime seien „nicht die besten Freunde“, so gesteht das „religionsgemischte Ehepaar“ zu. Vor weniger als fünfzig Jahren trauten aber auch reformierte Protestanten in der Regel den Lutheranern nicht über den Weg. Davon abgesehen: Fühlte sich ein Münchner im Ehehimmel, wenn er eine Ostfriesin ehelichte, so murrten Verwandte und Freunde doch sehr und nahmen sogleich die Rollen der Unheilspropheten ein. Cheema und Mendel sagen, sie seien in aufgeklärten, toleranten Familien aufgewachsen, die sich in einem „relativ einig“ über Muslime und Juden gewesen seien: „Den anderen wollen sie nicht in ihrer Familie.“
Ein großes Wahrnehmungsproblem bestehe in Deutschland, denn „Minderheiten, seien es Juden oder Muslime“ würden „oft als homogene Gruppe gesehen“. Die Heterogenität ist selbstverständlich, doch nicht wenige Nichtkatholiken in Deutschland etwa identifizieren das „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“, das von sich behauptet, es sei die Stimme der Laien in Deutschland, mit einem Verband, der die Katholiken hierzulande repräsentiert. Katholiken wissen, dass das mitnichten der Fall ist, und auch sie sind, wie Angehöriger anderer Religionsgemeinschaften oder Herkunftsländer, ausgesprochen heterogen.
„Und wenn wir Chanukka feiern, gibt es neben dem öligen Sufganiyot auch Baklava in Honig getunkt – die große Gefahr ist hier nicht die interreligiöse Zusammensetzung, sondern der übermäßige Zuckergehalt.“
Cheema und Mendel finden, dass weder endlose theologische Debatten zielführend sind noch der bloße Respekt gegenüber anderen Religionen hilfreich ist, sondern wünschen sich ein „gleichberechtigtes Ausleben“ der jeweiligen Traditionen und Kulturen: „Wir sind Migranten und Deutsche und gläubig und häretisch und Fahrradfahrer – alles zugleich. Widersprüche gehören zum menschlichen Wesen, und in der postmigrantischen Gesellschaft werden sie eher häufiger.“ Das Ehepaar plädiert für Gelassenheit und ein im besten Sinne pragmatisches Miteinander: „Und wenn wir Chanukka feiern, gibt es neben dem öligen Sufganiyot auch Baklava in Honig getunkt – die große Gefahr ist hier nicht die interreligiöse Zusammensetzung, sondern der übermäßige Zuckergehalt.“Der Nahostkonflikt bewegt Menschen in Deutschland, jeder Krieg werde „nicht mehr nur vor Ort, sondern auch auf dem Smartphone ausgetragen“. Erbitterte Diskussionen finden darüber statt, wo die Grenze zwischen der Kritik am Staat Israel und dem Antisemitismus laufe. Eine Schülerin, aus Palästina stammend, habe ein T-Shirt mit „Free Palestine“ getragen. Ein Lehrer fragt sich, ob er einschreiten soll. Er sucht das Gespräch mit der Schülerin, die hinter der Parole, die oft mit dem „Wunsch nach der Vernichtung Israels“ einhergeht, gar nicht die Hintergründe kennt. Im Gespräch zeigt sich, dass sie sich eine „friedliche Zwei-Staaten-Lösung“ wünschte. Doch Gespräche werden heutzutage oft nicht gesucht, sondern sogar absichtsvoll vermieden, vielleicht auch aus Angst vor der Diskussion und vor der abweichenden Meinung des anderen. Es werde zu oft und zu schnell „Partei ergriffen“.
„Es braucht etwas, was soziale Medien per se nicht leisten können: nicht die scharfmachenden und polarisierenden Stimmen gilt es zu verbreiten, sondern die gemäßigten und friedlichen.“
Cheema und Mendel schreiben: „Wer richtigerweise im Leugnen des Existenzrechts des Staates Israel Antisemitismus sieht, muss auch kritisieren, wenn man Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat abspricht. Weder Israelis noch Palästinenser brauchen Groupies im Ausland. Es braucht etwas, was soziale Medien per se nicht leisten können: nicht die scharfmachenden und polarisierenden Stimmen gilt es zu verbreiten, sondern die gemäßigten und friedlichen.“ Sonst entstehe ausschließlich eine „Negativitätsverzerrung“. Aus Konfliktparteien würden „Projektionsflächen eines politisch Imaginären“, und das eigene Bedürfnis trete in den Vordergrund, die Sehnsucht nach einer Welt, die in Gut und Böse unterteilt werden kann.Unverständlich ist für die Autoren die hiesige Identitätspolitik. Über Zugehörigkeit werde so viel gestritten, warum aber? Bisweilen würden „platte Ideologien“ gerechtfertigt, und unter dem Label „Wissenschaft“ werde Aktionismus betrieben: „Und ja, es gibt auch Studierende, die vor lauter Triggerwarnungen kaum noch in der Lage sind, ihren Horizont zu erweitern. Stattdessen verschanzen sie sich immer weiter in ihre Blasen. Aber gibt es das nicht in jeder Denkschule?“ Auch das „identitätsphilosophische Paradies“ ist nicht mehr als eine Illusion. Treffend charakterisieren Cheema und Mendel die gesellschaftliche Debatte über den Gaza-Krieg in Deutschland: „Die einen beklagen Antisemitismus und fehlende Empathie mit Juden, die anderen vermissen das Mitgefühl mit den Palästinensern und verurteilen eine antimuslimische Stimmung. Und alle haben auf ihre Weise recht und unrecht zugleich.“
Saba-Nur Cheema und Meron Mendel haben ein wichtiges Buch vorgelegt, das die Formelhaftigkeit vieler Diskurse und damit verbundene einseitige Betrachtungsweisen in der Gegenwart treffend aufzeigt. Wer nach Lösungsstrategien sucht, wird vielleicht enttäuscht sein. Sich aber von stabilen Denkgewohnheiten zu lösen, könnte sich als ein guter, vernünftiger Weg erweisen, um sich gegen Vorurteile zu wappnen und möglichst unvoreingenommen den Mitmenschen in der Welt zu begegnen.

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