Stefan Bollmann: Monte Verità

Die erste Kommune der Moderne

Monte Verità – Berg der Wahrheit. Die erste Kommune der Moderne in Ascona beim Lago Maggiore im Tessin wurde von Aussteigern, Veganern und Lebenskünstlern 1900 gegründet. Erich Mühsam, Hermann Hesse, Käthe Kruse, Marianne von Werefkin waren nur die Prominentesten. Denn die neue Gegenkultur zog viele Menschen aus ganz Europa an.

1900, 1968, 2022

Ida und Jenny Hofmann, Henri Oedenkoven und Karl und Gusto Gräser, Charlotte Pauline Hattemer und Ferdinand Brune besprechen in München-Schwabing ihre Ausstiegspläne. Als Spiritus Rector fungiert der russisch-deutsche Philosoph Afrikan Spir, den die beiden Schwestern und Brüder für den ideologischen Überbau (in Abwesenheit) konsultieren. Seine Ideen sind für die damalige Zeit durchaus revolutionär. Spir will sich von der Lebensroutine losmachen, indem er eine Siedlungsgemeinschaft von Freunden vorschlägt, die "aufrechte Liebe zu Wahrheit und Gerechtigkeit" in der Natur ihre eigene Natur ausleben sollen. Gesagt, getan. Die Grundstücksfindung gestaltet sich einfach und so wird das ehemalige darniederliegende Weingut besiedelt.

Die Reformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts wandte sich zudem gegen das beginnende Rentabilitätskalkül menschlicher Beziehungen. Denn im Kapitalismus war der Erwerbszweck zum Hauptzweck des Lebens, zum bestimmenden Moment, auserkoren worden.

Aber schon von Anfang an beherrschen Animositäten unter den Gründerinnen und Gründern das Verhältnis der Kommunarden. So bezeichnet etwa Ida Gusto als Parasiten, der nicht gebe, sondern den anderen wegnehme. "Schlimmer noch: Durch seine Hypokrisie bekommt ihr gemeinsames, der Wahrheit verpflichtetes Vorhaben eine Schlagseite ins Unehrenhafte", kommentiert Bollmann treffend das Verhältnis. Gusto war eine Art Vorläufer der Gammler der Sechziger, bei weitem nicht der einzige, wie Ida bald feststellen muss. Als Gusto geht, "heiraten" Ida und Henri, aber weder staatlich noch religiös, denn beides wird verachtet. Zumal Frauen damals in der Ehe keine Rechte hatten. Auch Jenny und Karl werden bald eine "Reformehe" eingehen. Und bald bekommen sie Unterstützer, manche bleiben länger, manche weniger lang. Was sie einte, war der Glaube, dass sich durch Kooperation mehr erreichen ließe als durch den Konkurrenzkampf der bürgerlichen Gesellschaft. Die Reformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts wandte sich zudem gegen das beginnende Rentabilitätskalkül menschlicher Beziehungen. Denn im Kapitalismus war der Erwerbszweck zum Hauptzweck des Lebens, zum bestimmenden Moment, auserkoren worden. 

Das utopische Moment

Manche im vorliegenden Buch abgebildeten Fotos erinnern an moderne Kommunen der Sechziger oder der Gegenwart.

Vegetarismus war damals mehr als nur der Verzicht auf Fleisch. Es war "eine Kampfansage an das Weltbild und die Tischzucht der bürgerlichen Familie", wie Bollmann treffend schreibt.

Da steht etwa der langhaarige Vegetarier Salomonson, ein ehemaliger Konsul, nackt vor einer Hütte und spatelt dahin. Andere Fotos zeigen die unbekleidete Tanztruppe eines Rudolf von Laban, dem Schöpfer des modernen Ausdruckstanzes. Oder ein Nacktfoto des Schriftstellers Hermann Hesse beim Bergsteigen. Vegetarismus war damals mehr als nur der Verzicht auf Fleisch. Es war "eine Kampfansage an das Weltbild und die Tischzucht der bürgerlichen Familie", wie Bollmann treffend schreibt. Aber man kann es auch so lesen: "Von früh bis spät kaute ich nun Äpfel, Pflaumen, Bananen, Feigen, Wal-, Erd- und Kokosnüsse - es war schauderhaft und ich fühlte meine Kräfte schwinden", meinte etwa der prominente Gast Erich Mühsam, der 1904 zu den Monterveritanern stieß. Nach zwei Wochen und einem Streit mit Oedenkoven eilt er schnurstracks in die Dorfkneipe runter und genehmigt sich ein Beefsteak, einen halben Liter Rotwein und eine Zigarre. "Noch nie hat mir eine Mahlzeit so geschmeckt, nie mich eine so gekräftigt und dem Leben gewonnen", meinte er dazu später (in "Ascona"), nicht ganz ohne Schadenfreude. Aber so witzig sich das liest, Mühsams Verurteilung der Kommune war sexistisch motiviert, bei aller amüsanten Unterhaltung, die sein Abgesang auf die puritanischen Elemente der "Vegetabilisten" beinhaltet. Ida und die Monteveritaner begründeten jedenfalls einen Trend, der, von Donald Watson später als Veganismus bezeichnet, seinen Siegeszug um die Welt antrat. Wer auf tierische Fette und Enzyme verzichte, würde sich bald wie ein Olympionike fühlen, so der aktuelle CEO der Supermarktkette Veganz.

Monte Verità - heute und damals

Was die vorliegende Monographie von Stefan Bollmann so besonders macht, ist nicht nur die Vielzahl an Quellen, die er verwendet. Bollmann stellt auch immer wieder Bezüge zwischen der Reformbewegung um 1900, 1968 und der Postmoderne her. Denn Mutual Aid, Guerilla Gardening, Critical Mass oder direkte Aktion: das alles gab es schon, auch wenn vielleicht unter anderen Bezeichnungen. In den Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Gelände übrigens renoviert und 2017 auch die Ausstellung von Harald Seemann neu eröffnet. Im Anhang befindet sich neben einer reichen Bibliographie auch eine Zeittafel und ein Bild- und Quellennachweis.

Monte Verità
Monte Verità
1900 – der Traum vom alternativen Leben beginnt
317 Seiten, broschiert
Pantheon 2020
EAN 978-3570554067

Spatriati

Ein grandioser Roman zwischen Süditalien und dem Rest Europas über Migration, Liebe und die Sehnsucht danach.

Spatriati

Innere Widersprüche und aussenpolitische Probleme

Einblicke aus erster Hand in das politische System der DDR und deren Beziehungen zur UdSSR.

Gestaltung und Veränderung

Wie der Mensch seine Lebensgrundlagen zerstört

Wenn wir weiter wirtschaften, als wäre die Welt grenzenlos, werden wir unweigerlich unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören – außer wir akzeptieren, dass die Grenzen der Natur unsere Freiheit beschränken.

Homo destructor. Eine Mensch-Umwelt-Geschichte.

Israel im Gespräch

Meron Mendels Buch veranschaulicht die aktuellen Debatten über Israel, beleuchtet geschichtliche Hintergründe und auch die sensiblen Punkte in den Kontroversen.

Über Israel reden

Über Rechts- und Unrechtsstaaten

Interessante und erhellende Gespräche zwischen Friedrich Wolff und Egon Krenz.

Komm mir nicht mit Rechtsstaat

Eine Freundschaft fürs Leben

Die Briefe der Ehepaare Lenz und Schmidt sind kostbar und wertvoll, bergen sie doch einen großen Reichtum an Güte, Menschenfreundlichkeit, Warmherzigkeit und Sympathie, auf norddeutsche Art, hanseatisch und humorvoll zugleich.

Ihr ganz lieben Zwei