Dörte Hansen: Mittagsstunde

Brinkebüller Impressionen

Mit "Altes Land" hatte Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, lange Zeit als Rundfunkredakteurin für den NDR tätig, 2015 ihren Debütroman vorgelegt. Das Buch eroberte die Bestsellerlisten ebenso wie die Herzen der Leser. Sorgsam schilderte die Autorin die Lebenswelten von Stadt und Land, zeichnete kantige, eigensinnige Figuren aus Norddeutschland. Drei Jahre später erscheint der Roman "Mittagsstunde". Die Autorin berichtet erneut von Nordfriesland. Sie berichtet von Ingwer Feddersens Rückkehr in seine alte Heimat Brinkebüll. Macht sich ein auf gewisse Weise verlorener Sohn auf den Weg nach Hause?

Der neue Roman besitzt den Charme eines Familienalbums mit vergilbten Fotos. Ingwer Feddersen stammt aus Brinkebüll. Zwischen dem Heimatdorf und der Universitätsstadt Kiel, in der er als Hochschuldozent für Archäologie arbeitet, liegt eine kaum messbare Distanz. Er lebt in einer Wohngemeinschaft, auch in einer komplexen, vielleicht komplizierten Partnerschaft. Dörte Hansen erzählt von Ingwers Freundin Ragnhild, aber eher beiläufig. Mehr erfährt der Leser über die kantigen Persönlichkeiten aus Brinkebüll. Zu ihnen zählt Pastor Ahlers, sein "Hirtenjob war hart hier draußen": "Seine Sorte Schaf schien gegen jeden Glauben imprägniert zu sein. Wind- und wetterdichtes Fell, nichts Frommes drang da durch. Alles Göttliche lief ab an ihrem Fell wie Wasser am Gefieder einer Gans. Sie glaubten ihm kein Wort." Der Pastor gehörte zum Dorf wie die Kirche. Er fand kaum Gehör. Einige Leute aus Brinkebüll erzählten und hörten Weltuntergangsgeschichten. Ahlers ging seiner Pensionierung beschwerlich, aber gläubig entgegen: "Ahlers hoffte immer noch, die Seelen zu erquicken und sie aus den dunklen Tälern zu befreien, er würde dieses Dorf wohl nicht mehr fromm bekommen, aber er mühte sich redlich bis zum Abschiedsgottesdienst." Das Wort "erquicken" verfügt über hinreichend Patina, erscheint altmodisch. Ist Alters also ein sentimentaler Kanzelredner? Pastoren, die auf den Ruhestand zugehen, wirken in der Stadt oft spät jugendlich, bei Dörte Hansen wirken die Landgeistlichen greisenhaft. Anscheinend verfügte der Pastor aber über ein besonderes Durchhaltevermögen. Er wirkt gestrig, so soll er wirken. Die Autorin stellt ihn auf diese Weise vor und zugleich ganz anders, denn sie schildert auch den Seelsorger, der niemanden mehr, ob larmoyant oder beherzt, "erquicken" möchte. Bei Todesfällen nämlich blieb er solange bei den Angehörigen, bis diese das Unbegreifliche verstanden hatten, dann etwa, wenn die "jungen Leute" am Wochenende in die Discos fuhren. Die Feuerwehr musste nachts ausrücken: "Oft kannten sie die jungen Leute, die da bluteten und schrien. Nachbarstöchter, Schulkameraden, Kollegen aus der Lehrlingszeit. Oder nicht mehr schrien." Wenn Pastor Ahlers bei Eltern vor der Tür stand, dann wussten sie, was passiert war, und er "hielt es mit ihnen in den Küchen aus". Nicht vom Unglauben wollte er befreien. Auch keine – wie anderswo dargelegt – vielleicht bedürftigen "Seelen erquicken". Hansen zeichnet Pastor Ahlers, beispielhaft für einige Gestalten in ihrem Roman, nicht so sparsam, wie es doch möglich wäre. Der Pastor war im Dorf alt geworden, aber er konnte zuhören. Das könnte genügen.

Eine weitere markante Persönlichkeit ist Christian Steensen, der mürrische Dorflehrer, "der düster wie ein Rabenvogel durch die Feldmark schritt", auch dem Ruhestand. Er hatte früh Ingwer Feddersens Begabungen erkannt. Steensen, im Grunde ein düsterer Charakter, verstand sich als eine Art "Leittier". "Wer die körperliche Züchtigung im Unterricht verbieten wollte, hatte nie vor vierzig Dorfkindern gestanden, dickfellig und rauflustig wie eine Herde Jungvieh." Von "sadistischem Geprügel" hielt er nichts: "Steensen schlug meistens mit den Händen, hin und wieder mal mit einem Heft, noch seltener mit einem Stock, fast nie mit einem Lineal." Er glaubte an die "alte Schule", mit Frömmigkeitsübungen, an Ordnungssinn, an "Stillarbeit und Schönschrift": "Und seine Schüler lernten Heimatkunde." Steensen förderte auf seine Weise zwar Ingwer Feddersen. Er habe den "Ortsausgang" finden müssen, denn er "verstand, was man ihm sagte, und er stellte Fragen, das unterschied ihn von den anderen". Aber hat ein anscheinend sensibler, intelligenter Schüler wie Ingwer, genauso mutmaßlich wie auch jedes unsensible, törichte Dorfkind, unter einem Lehrer dieses Schlags nicht gelitten?

In den 1970er-Jahren besuchten die Vorboten der Apokalypse die nordfriesischen Dörfer – junge Vermessungsingenieure, technisch begabt. Auf dem Papier war das Dorf längst "ausradiert, berichtigt und begradigt": "Die lächerlichen kleinen Felder, auf denen ein moderner Mähdrescher kaum wenden konnte. Die kümmerlichen Bauernhäuser, Stall und Stube Wand an Wand, die sich in der Dorfmitte aneinanderdrängten wie die Eintagsküken. Das ganze Ende, Schiefe und Beschränkte, das Verwinkelte und Zugewachsene, das Umständliche musste weg. Man konnte diese Dörfer nicht so lassen, wie sie waren." Doch Brinkebüll wirkte noch, als ob die Uhren für immer stehengeblieben seien. Später entdeckten einige Auswärtige die nordfriesischen Landstriche, meist Pendler, "neue Dorfbewohner", einige grüßten, andere nicht, und viele lebten für sich in dem Ort, vor allem am Wochenende. Die Landwirtschaft änderte sich, "kein Hase konnte sich in diesen Feldern mehr verstecken." Die Höfe starben, erst baute die Bundeswehr mit ihren Kasernen, später entstanden Windkraft- und Solaranlagen.

Zurück zu Ingwer Feddersen, dem Akademiker – sollte das "grundentspannte Kumpeltier" wirklich in die kleine Welt von Brinkebüll zurückkehren? Er lebt, 48 Jahre alt, mit Ragnhild, fast 50, die für sich die Emojis entdeckt hat, in Kiel. Ist er dort glücklich? Feddersen findet Ragnhilds Schwester Beatrice anstrengend. Sie erprobte ständig "Volkshochschulen-Plattdeutsch" in seiner Gegenwart: "Moin Ingwär Fäddersän! Möööönsch! Wo geiht di dat! Wie er es hasste. Einmal durch den ganzen Raum. Sie bombte sich in jede Unterhaltung, ganz egal, mit wem er gerade sprach, und dann kam jedes Mal dieselbe Nummer … Ich find die so nett, diese Sprache. So urig, irgendwie. Spätestens bei urig wollte man direkt zuschlagen. Sie brüllte dann auch immer so, als müsste jemand, wenn er Plattdeutsch sprach, zwangsläufig taub und/oder geistig leicht behindert sein." Dörte Hansen kennzeichnet die Gestalten bizarr und unterhaltsam. Doch sehen wir Feddersen vor uns, den Wissenschaftler mit der "Buddel Flens"? Der Archäologe hat so viele Eigenschaften, aber als Person bleibt er unscharf. Er sei zugleich "Arte-Gucker", "Lyrikleser" und "Steinesammler", ein "Denker", bodenständig und doch fern der alten Heimat. Jemand, der sich "weggeduckt" habe: "Da war noch immer das Gefühl, dass er sich unerlaubt aus Brinkebüll davongestohlen hatte bei den anderen, den Unileuten, den Studierern. In diese Kieler Villa, in die Wohngemeinschaft mit dem Richtersohn und mit der Diplomatentochter. Jetzt, nach zweieinhalb Jahrzehnten, schien da immer noch die unsichtbare Wand zu sein, die ihn von diesen anderen beiden trennte." Gehört Feddersen nach Brinkebüll? Nach Kiel? "Er hatte sich ein Leben selbst gebaut, auf einem Fundament aus Shell-Atlas und Steensens Steinsammlung irgendwie zurechtgezimmert, und jetzt merkte er, wie schief es war. Es passte nichts zusammen. Er musste nochmal ran."

Dörte Hansens Roman ermuntert, über Zugehörigkeit nachzudenken. Ingwer Feddersen steht in der Mitte des Lebens vor Fragen, die sich kaum formulieren und noch weniger beantworten lassen. Ist er je über Brinkebüll hinausgekommen? Das, was als Selbstverwirklichung gedacht, zu einer Art Lebenshaltung geworden war – philosophisch gesprochen: ein existenzialistischer Schritt in die reflektierte Intellektualität –, begegnet dem Leser als ein mit vielen Worten ausgemalter Zwischen-, als ein Schwebezustand. Geboren und aufgewachsen ist Ingwer in einem Dorf, ein "vaterloses" Kind, einem Feddersen zugeordnet, beruflich erfolgreich (was immer das heißen mag), trotzdem ratlos. Auch die Universität beschreibt die Autorin, diesen rätselhaften Ort, bevölkert von schrägen Gestalten, mehr von Typen als von Charakteren. Wir hören von der "Dauerdoktorandin", von der launischen Sekretärin, die "wie Zerberus" Wacht hielt: "Blaffte jeden aus dem Zimmer, der zur Unzeit klopfte, um sich einen Seminarschein abzuholen, oder es wagte, nach dem Fachschaftsraum zu fragen. Sie blaffte aber fairerweise alle an, von Erstsemester bis C4, sie machte keine Unterschiede. Der Trick bestand darin, ein- oder zweimal laut zurückzublaffen, wenn sie gar nicht damit rechnete. Und zum Geburtstag eine Orchidee zu schenken." Ja, Dörte Hansen schenkt dem Leser Einblicke in Eigenheiten, Schrullen und Marotten. Plastisch, auch amüsant und auch lesenswert beschreibt sie ein Kuriosenkabinett. Die Konturen vieler Gestalten werden zwar deutlich, aber begegnen wir lesend ihrem Leben, Lieben und Leiden? Leiden wir mit? Oder schauen wir nur zu?

Dörte Hansen beschreibt ein Dorf in Nordfriesland. Auch Siegfried Lenz hat so oft von diesem Landstrich erzählt, doch ganz anders. Er hat das Land, die Menschen dort und vor allem die See anders wahrgenommen und beschrieben. In Dörte Hansens Roman begleiten wir nur den grüblerischen Ingwer Feddersen bei seinem Abschied von Brinkebüll: "Man hörte keine Tiere mehr. Auch nicht die Stimmen, die die Tiere riefen, laut genug, um große Felder zu beschallen, wen sollten sie auch rufen, auf den Weiden standen kaum noch Kühe. Ingwer schienen, wenn er durch das Dorf ging, nur noch Dinge einzufallen, die verschwunden waren."

Mittagsstunde
Mittagsstunde
320 Seiten, gebunden
Penguin 2018
EAN 978-3328600039

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