Martin Heipertz: Merkelismus

Merkels Politik der Alternativlosigkeit

16 Jahre lang amtierte Angela Merkel als Bundeskanzlerin und hatte damit die Richtlinienkompetenz in der Bundesrepublik Deutschland inne, so lange wie vor ihr nur Helmut Kohl, der derselben, gegenwärtig wie entwurzelt anmutenden Partei namens CDU angehörte. Kritik an Merkels Amtsverständnis und -ausübung gibt es mittlerweile zwar reichlich, eine grundsätzliche politiktheoretische Auseinandersetzung fehlt bislang. Martin Heipertz liefert hierzu einen ersten Beitrag, wenn er begründete Zweifel an der vermeintlichen Politik der Alternativlosigkeit, für die Angela Merkel stand, vorbringt. Anders als der journalistisch-pointiert anmutende Titel und der plakative Untertitel suggerieren, tut er dies sachlich fundiert und vor allem auch mit wirtschaftspolitischer Expertise.

Es war der hierzulande umstrittene US-Vizepräsident J. D. Vance, der mit einem Weckruf auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2025 das alte Europa an seine christlichen Wurzeln und an den Kirchenvater Augustinus erinnerte. Die mediale Öffentlichkeit und Amtsträger der Politik empörten sich umgehend und erwartungsgemäß. Den „ordo amoris“ sprach Vance an. Er übte damit so ungeschmeidig wie schneidig dezidierte Kritik an der europäischen Migrationspolitik.

Auch Heipertz beruft sich auf Augustinus, auf die „Rangfolge in der Ordnung der Liebe“: „Es ist nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, die eigenen Familienmitglieder mehr zu lieben als Fremde und das eigene Volk mehr zu hegen als die Angehörigen fremder Völker. Was für den Staat gilt, gilt auch unter Einzelnen: Nächstenliebe ist im wahrsten Sinne des Wortes die Liebe und das Mitgefühl für die Menschen, auch für einen Fremden, der aber in unserer Nähe ist und für den wir daher die konkrete Macht und damit die Pflicht haben, zu helfen und ihn zu schützen – ganz im Gegensatz zu räumlich entfernten Personen.“ Heipertz bezieht sich hier auf die primär von ihm erörterte Fiskalpolitik, als die damals regierende Koalition unter Angela Merkels Führung mit einer Reihe von Maßnahmen wie andere EU-Staaten das insolvente Griechenland unterstützte. Behauptet wurde am 19. Mai 2010 im Deutschen Bundestag, dass die EU scheitere, wenn der Euro scheitere. Hier wie auch später wurden „moralische Argumente“ bemüht. Eine solche Moralisierung des staatlichen Handelns, verbunden mit einer öffentlich reklamierten Hypermoral wie in der Migrationskrise 2015, ist seither immer wieder zu beobachten.

Der Vorläufer davon war die Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2012. Innerhalb kürzester Zeit galt die Nutzung der Kernkraft – bis dahin eine wichtige Stütze der Energiepolitik – als unmoralisch, denn Fukushima, so schien der auch medial verbreitete Glaube zu sein, könne überall stattfinden, nicht nur in Erdbebengebieten in Japan. Die Bundesregierung konstatierte einen „Zusammenbruch des Vertrauens in die Kernenergie in Deutschland“ und beschloss einen energie- wie umweltschutzpolitisch betrachtet unverständlichen deutschen Sonderweg im Herzen Europas: „Merkel leitete eine drastische Änderung der Energiepolitik und den einzigen vollständigen Ausstieg aus der Kernenergie in der Welt ein.“ Marxistisch formuliert ließe sich hier bemerken: Dieser Ausstieg folgte der Einsicht in die Notwendigkeit – zumindest dann, wenn die Notwendigkeit der eigene Machterhalt ist, somit also ein subjektiv verständliches, objektiv allerdings unzureichendes Motiv. Heipertz verweist auf die Konsequenzen dieser grundlegenden Richtungsänderung in der Energiepolitik: „Zugleich wurde die deutsche Wirtschaft immer abhängiger von billigem Gas und Öl aus Russland. Ein Jahrzehnt später verwandelte der Ukraine-Krieg die Abhängigkeit Deutschlands von Russland in eine Energiekrise von historischem Ausmaß. Energie war günstig und bequem und vermittelte die Illusion, dass Deutschland parallel aus der Kernenergie und kohlenstoffhaltigen Energieträgern aussteigen könne, indem es auf eine Kombination aus stark subventionierten erneuerbaren Energien und Gas setzte.“ Heipertz stellt fest, dass das Regierungshandeln hier wie bei anderen Entscheidungen eindeutig von einem umfassenden Realitätsverlust gekennzeichnet ist.

2015 folgte gewissermaßen eine neue Völkerwanderung aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Zentralasien. Angela Merkel entschied sich „mit Rücksicht auf innenpolitische Präferenzen“ nun „gegen den Schutz der Landesgrenzen“, dabei unterstützt von NGOs und den christlichen Kirchen. Während 2010 bei der Eurokrise noch der Bundestag beteiligt war, blieb diesmal das Parlament außen vor: „Zur Kritik von Verfassungsrechtlern, die argumentieren, dass wesentliche Entscheidungen der Regierung der parlamentarischen Unterstützung bedürfen, stimmt der Bundestag nicht über die Migrationspolitik ab.“ Die „Monopolisierung des öffentlichen Diskurses“ schritt voran, was sich wenige Jahre später an den dirigistischen Maßnahmen zeigte, mit denen das Covid-19-Virus bekämpft werden sollte.

Die Aufarbeitung dieser Politik steht erst am Anfang. Heipertz konstatiert auch hier eine mediale Gleichförmigkeit der Berichterstattung, auch der „allgemeine Grad an Konformismus in der deutschen Gesellschaft“ sei „beunruhigend“ gewesen. Wer leise Zweifel an den Maßnahmen hegte, galt als politisch verdächtig. Währenddessen verständigte sich ein Gremium ohne verfassungsrechtliche Grundlage, die „Schaltkonferenz zwischen der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten der Bundesländer“, über politische Maßnahmen, um den „tatsächlichen oder vermeintlichen Anforderung der Seuchenbekämpfung“ gerecht zu werden. Man mag rückblickend vielen, den Verantwortungsträgern wie den Bürgern, ein gewisses Maß an Überforderung und Hilflosigkeit zugestehen. Indessen: Von heute aus bleibt der Katalog an Maßnahmen und Sanktionen so kurios wie unverständlich, von dem sogenannten Mindestabstand von einem Meter fünfzig zwischen Personen, die sich unter freiem Himmel begegnen, über eine restriktiv angeordnete Maskenpflicht in Innenräumen, Besuchsverbote in Altenheimen und nächtliche Ausgangssperren bis hin zu der Verhängung von Impfpflichtvorgaben für bestimmte Berufszweige, also die einrichtungsbezogene Impfpflicht für Bedienstete im Gesundheitswesen und in der Altenpflege. 

Die Bundeskanzlerin agierte in der „Politik des Durchwurschtelns“ als „zentrale Figur im politischen System“ und erzielte praktisch einen „beträchtlichen Machtzuwachs“. Heipertz fragt sich, ob die Sorge um die „Vitalität der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie“ heute begründet sei und „ob die Merkel-Ära dauerhafte Schäden in unserer politischen Kultur verursacht habe“. Darüber könnte, darüber sollte nachgedacht werden. Der Autor schreibt zudem: „Besonders bemerkenswert ist, dass nicht nur die staatlich finanzierten Medien, sondern auch die freie Presse auf die Linie der Regierung eingeschwenkt sind.“ Ebenso sei die „Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden“ gewachsen. Über die Bilanz der Ära Merkel besteht also Diskussionsbedarf. Das Buch von Martin Heipertz verdient aufmerksame Beachtung.

Merkelismus
Merkelismus
Die hohe Kunst der flachen Politik
272 Seiten, broschiert
Westend 2024
EAN 978-3864894749

Das katholische Paralleluniversum

Die Thesen und Einschätzungen der Autoren in diesem Aufsatzband bergen Diskussionsstoff und setzen ein deutliches Fragezeichen hinter den Synodalen Weg.

An den Früchten erkennt man den Baum

Ein anderes Bild Giacomo Casanovas

Lothar Müller hat die "Histoire de ma vie" Casanovas gelesen und eine kommentierte Ausgabe des Best-of herausgegeben: et voilà!

Die Feuerschrift

Der rechtssichere Einsatz von KI-Systemen

Das „Praxishandbuch KI und Recht“ bietet einen Überblick über die vielfältigen rechtlichen Fragen rund um Künstliche Intelligenz, von Haftung bis Urheberrecht, und erörtert die neue KI-Verordnung der EU.

Praxishandbuch KI und Recht

Carlo Levis Diagnose für Deutschland

Carlo Levi berichtet über seine Reise in Deutschland 1958 und thematisiert die psychologischen und gesellschaftlichen Wunden, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat.

Die doppelte Nacht

Geschichte des amerikanischen Widerstands der First Peoples

Aram Mattiolis wertvolle Einführung in das Thema des indianischen Widerstands.

Zeiten der Auflehnung