Individualität und Gesellschaft
England in den frühen sechziger Jahren. Bereits lange vor ihrer Hochzeit waren sie ein Paar: Florence, die passionierte Violinistin aus gutem Hause, und Edward, frisch gebackener Historiker und Kind schwieriger Familienverhältnisse. In inniger Verbundenheit und Liebe hatte sich ihr Verhältnis auf rein platonischer Ebene bewegt, doch nun, frisch verheiratet und in den Flitterwochen am Strand von Chesil Beach, stehen sie vor der größten Herausforderung ihrer Beziehung: der Hochzeitsnacht. Dieses Ereignis verändert das Verhältnis der Eheleute von Grund auf und lässt ihre Zweisamkeit am Ende scheitern.
Was verbindet Menschen - und was trennt sie. Erneut nimmt Ian McEwan, Autor des Erfolgsromans "Abbitte" (2007 verfilmt mit Keira Knightley und James Mc Avoy), menschliches Verhalten und seine Bedingungen unter die Lupe. Schnell wird deutlich, dass Florence und Edward in ihrer körperlichen Zweisamkeit einsam sind. Es gelingt ihnen nicht, Barrieren, die zwischen ihnen stehen, zu überwinden und sich einander anzunähern. Woher stammen diese Grenzlinien und wie wirken sie sich aus? Dies sind die zentralen Fragen, die im Fokus des Romans "Am Strand" stehen.
Deutlich fällt die Antwort aus: Es sind Rollenbilder, Klischees und Konventionen, die das Glück der Eheleute zerstören. In einem der Sexualität weitgehend entfremdeten Zeitgeist aufgewachsen entstammen sie Elternhäusern, deren Vorbilder nicht dazu geeignet waren, Geschlechtlichkeit und Liebe integrierende Ichideale auszubilden. Unter den Bedingungen großer zwischenmenschlicher Nähe in der sexuellen Begegnung scheitern sie, weil sie auf diese Stereotypen zurückgreifen und sich so, statt sich anzunähern, von einander entfernen.
Wieder einmal hat Ian McEwan eine scharfsinnige Analyse der Motivation menschlichen Handelns geschrieben, die thematisch stark an Jean-Paul Sartres "Das Spiel ist aus" erinnert. Doch während Pierres und Eves Verbindung dort konkret an ihrem sozialen Herkommen scheitert, dabei jedoch als klassische moderne ideologische Konfliktsituation greifbar ist, verschiebt sich die Problematik bei McEwan in die Psychologie und wird sehr subtil. Wie bei Sartre wird auch in "Am Strand" die Verbindung der Protagonisten durch sozialisationsbedingte Konventionen behindert, die, anders als in Sartres Stück, nicht zu gesellschaftlichen Gräben sondern zu einer Brüchigkeit des Individuums führt, das in seiner Handlungsfreiheit so stark eingeschränkt ist, dass Nähe unmöglich wird. Vergleicht man beide Texte wird somit Zweierlei deutlich. Zum Ersten machen beide bewusst, wie stark der einzelne vom seinem sozialen Milieu beeinflusst ist. Zum Zweiten ermöglicht es dieser Bezug, europäische Gesellschaft im Wandel zu betrachten, wobei der Wegfall des bestimmenden Einflusses der großen Ideologien den entscheidenden Wendepunkt markiert. Manifeste intra-gesellschaftliche ideologische Rollenmuster haben sich verschoben, hin zu individuell-psychischen Identitätsdefiziten. Damit sind die Probleme fortschreitender Individualisierung und Orientierungslosigkeit beschrieben, der Verlust gemeinsamer Werte, der unsere Gesellschaft bis zum heutigen Tag kennzeichnet. Individuen benötigen sozialisatorische Orientierung, doch wie muss die Gesellschaft gestaltet sein, damit der einzelne seinem "Menschsein" möglichst nah kommt? Dies ist die Frage, die sich nach der Lektüre von McEwans Roman und dem Vergleich mit "Das Spiel ist aus" nachdrücklich stellt.
Mit "Am Strand" hat Ian McEwan eine großartige und gehaltvolle Gesellschaftskritik verfasst, die dabei sehr eingängig und angenehm zu lesen ist. Ein ausgezeichneter Roman.
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