Ein Mann - doch wie viele Identitäten
"Ich bin nicht Stiller" sagt Mr. White nach seiner Verhaftung bei dem Versuch, die Schweizer Grenze zu überqueren. Doch alle Indizien sprechen gegen ihn. Selbst Stillers Frau, dessen Verwandte, Bekannte, Freunde und Kollegen kommen alle zum selben Urteil: Der Mann, der dort in der Zelle sitzt, ist Ludwig Anatol Stiller. Doch Mr. Jim Larkin White beharrt auf seiner Aussage. Bis zweifelsfrei geklärt werden kann, wer denn nun in der Zelle einsitzt, weigern sich die Schweizer Behörden, den Gefängnisinsassen zu entlassen.
In Max Frischs Roman "Stiller", der 1954 erschienen ist, möchte ein Mann nicht der sein, von dem alle glauben, das er es wäre. Objektiv betrachtet ein mäßig erfolgreicher Maler, der mit einer kränkelnden Prima Ballerina verheiratet ist, krankt Stiller daran, in einem entscheidenden Augenblick seines Leben versagt zu haben; zumindest in seinen Augen: Als Freiwilliger während des Kampfes der Kommunisten gegen die Franco-Faschisten in Spanien brachte er es nicht über sich, drei feindliche Soldaten zu erschießen. Diese Geschichte, die Stiller förmlich traumatisiert hat, wird im Laufe des Romans in verschiedenen Variationen erzählt, so dass bis fast zum Ende des Romans unklar bleibt, was wirklich damals in Spanien geschah.
Kleiner Feigling
Seit dieser inneren Niederlage versuchte Stiller, auf anderen Wegen seine Unerschrockenheit und Männlichkeit zu beweisen. Doch statt wie ein Hemingwayscher Held den Stier bei den Hörnern zu packen, fand er nie den Mut, den begonnenen Weg konsequent zu Ende zu gehen. So versagt er auch in seiner Ehe mit der Prima Ballerina Julika. Von allen umworben und umschwärmt, erliegt diese dem Werben Stillers, weil sie ihn für einen außerordentlich einfühlsamen, rücksichtsvollen und künstlerischen Menschen hält. Doch schon kurz nach der Eheschließung muss Julika erkennen, dass sie sich in Stiller getäuscht hat, der sich als kleingeistiger Spießer entpuppt, der vor Selbstzweifeln, Selbsthass und Auto-aggressionspotential nicht in der Lage ist, objektive Realität von falscher Selbstwahrnehmung zu unterscheiden. Stiller stellt sich jedoch auch hier nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Statt die Scheidung einzuleiten, zieht er lieber in sein Bildhauer-Atelier und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit einer verheirateten Frau, die er zu lieben glaubt. Doch selbst jetzt schafft er es nicht, seine Frau zu verlassen und sich zu seiner Geliebten zu bekennen. Als er sich zwischen den beiden Frauen entscheiden soll, flieht er nach Amerika. Auch hier findet er keinen Frieden und weiß letztendlich keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen.
Rollenspiel
Ein Großteil des Romans ist in einer Art Tagebuch geschrieben, welches von White in seiner Zelle verfasst wird. Dort trägt er alles ein, was er über Stiller erfährt und kommentiert voller Ironie und Sarkasmus seine Erkenntnisse über den Kontrahenten. White ist genau so, wie Stiller gerne gewesen wäre. Unabhängig, erfolgreich, zupackend und männlich hat er seinen goldenen Weg in Amerika gemacht. So muss ein Mann sich die Welt unterwerfen. So sieht sich White und so besteht für ihn keine Motivation, sich zu seiner Identität zu bekennen, die er nur verachten kann. Doch schon schleichen sich Zweifel ein, denn White ist der einzige Zeuge für die Abenteuer von White, wohingegen diejenigen, die bezeugen, dass White und Stiller identisch sind, deutlich in der Überzahl und glaubwürdig sind. Ist White nur eine Tabula Rasa, ein Pseudonym, ein Alias, ein Gedankenkonstrukt von Stiller? White kann nicht Stiller sein, den Stiller würde sich selber im Weg stehen bei dem Versuch, sein Leben von Grund auf zu ändern. Über dem Grübeln, wie er gerne sein würde und was ihm alles verwehrt ist, vergisst Stiller, auch nur einen einzigen Schritt in irgendeine Richtung zu tun. Bewegungslos im Zentrum seiner Unfähigkeit verharrend bejammert er sich und bemerkt dabei nicht, dass nur seine Untätigkeit dazu führt, dass keine Änderung in seinem Leben eintritt.
Ätzend verletzend
Ulrich Matthes versteht es, genau diese Zerrissenheit, dass schizophrene in Whites Charakter zum Ausdruck zu bringen. Wie Säure in das nackte Fleisch schneidet seine vor Sarkasmus triefende Stimme, wenn er Stillers Versagen kommentiert. Vor innerlichem Vergnügen glitzern Whites Augen, wenn er den Gefängniswächter mit seinen imaginären Verbrechen konfrontiert und auch das versteht Ulrich Matthes audiophil beim Hörer zu imaginieren. White ist nicht gefühllos. In den wenigen Augenblicken, in denen bei ihm Zweifel hinsichtlich seiner Identität aufflackern, schürt auch Ulrich Matthes dieses Züngeln der Unsicherheit beim Hörer. Zu keiner Zeit verliert er die Kontrolle über den Roman, drängt sich dabei erfreulicherweise nicht durch unnötige Stimmsperenzien in den Vordergrund, sondern projiziert die innere Zerrissenheit der Protagonisten durch Portierung der Wirklichkeits- und Zeitebenen in akustisch von einander unterscheidbaren Sprachduktus.
Fazit: Identitätssuche und -verleugnung auf hohem literarischen Niveau. Die Lesung von Ulrich Matthes ist unbeschreiblich und nahezu perfekt.
Echo eines Verschwindens
Eine berührende, zarte Geschichte über das plötzliche Verschwinden eines liebgewonnenen Menschen.
WendeschleifeUnfassbare Alltäglichkeiten aus dem EU-Apparat
Möglichst vielen (realsatireoffenen) Leserinnen und Lesern zur Lektüre empfohlen.
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