Argentinien während Falklandkrieg und Militärdiktatur
"Ciencias morales" vom Argentinier Martín Kohan ist 2007 in Spanisch und vor einigen Monaten nun auch in der deutschen Übersetzung unter dem Titel "Sittenlehre" erschienen. Gleich wie zuvor "Zweimal Juni" (2009 bei Suhrkamp) handelt das Buch zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur. Weder in "Zweimal Juni" noch in "Sittenlehre" werden die grossen historischen Eckpunkte und Ereignisse thematisiert, sondern werden Menschen porträtiert, die sich mit dem Leben innerhalb des Überwachungsstaates arrangieren, sich der Situation anpassen und nie hinterfragen, wozu die Dinge sind, wie sie sind.
So auch die junge María Teresa, die zur Zeit des Falklandkrieges als Aufseherin im Colegio Nacional, einem Elitegymnasium in Buenos Aíres, arbeitet. Sie ist darum bemüht, ihre Aufgabe mit grösster Sorgfalt auszuführen und den Werten der Schule, welche insbesondere in Gehorsam, Disziplin und Strenge bestehen, Rechnung zu tragen. Mit der Absicht, den Oberaufseher Biasutto zu beeindrucken, nimmt sie sich vor, die Schüler beim Rauchen auf frischer Tat zu ertappen. Zu diesem Zweck schliesst sie sich Tag für Tag in der Knabentoilette ein und hört den Schülern beim Pinkeln zu, was zunehmend einen erotisch-voyeuristischen Anstrich bekommt. Die Knabentoilette wird für María Teresa zu einem Ort der Sehnsucht, zu einem Zufluchtsort und "die Kabine, in die sie sich einschlieβt, wird gewissermaβen zum Zufluchtsort im Inneren eines Zufluchtsortes."
Was sich 1982 ausserhalb der Internatsmauern abspielt, wird nur nebenbei erwähnt. Argentinien befindet sich am Ende einer Militärdiktatur, im Süden des Landes tobt der Falklandkrieg, welcher am 14. Juni mit der Kapitulation Argentiniens für beendet erklärt wird. Willkürliche Verhaftungen, geheime Foltergefängnisse und die Tatsache, dass jeder gleichzeitig überwacht und überwacht wird, schaffen ein Klima von Bedrohung und Angst. Die Bedrückung wird besonders anhand der Figur der Mutter spürbar, welche den Tag mit Radio- und Fernsehnachrichten hören verbringt und auf Zeichen von Francisco hofft. Francisco, der Bruder von Marita (so wird sie zuhause genannt), ist in die Armee eingezogen und mit dieser in den Süden Argentiniens geschickt worden. So wie Franciscos Kartengrüsse zunehmend wortkarger werden, nimmt die Angst der Mutter um den einzigen Sohn und Mann in der Familie zu.
María Teresa kennt die Not von Verlust, von Angst und Bangen und dennoch ist sie eine klassische Mitläuferin, die selten hinterfragt, sich allenfalls manchmal für den Moment einer Sekunde wünscht, es wäre anders: "Zum erstenmal würde sie lieber zuhause bleiben und nicht ins Colegio gehen. Natürlich zieht sie diese Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht, sie wird ins Colegio gehen, das weiβ sie, aber zum erstenmal hat sie das Gefühl, sie würde es lieber nicht tun, lieber würde sie ein wenig auf Abstand gehen in dieser Welt, in der sie Listen durchgehen muβ, die Aufstellung kontrollieren, das Aufgabenbuch der Lehrer führen, Disziplinverstöβe bestrafen, immer wachsam sein, keine Schwäche zeigen, die Tafel wischen, für Kreidenachschub sorgen, die Schulleitung auf dem laufenden halten, sich um das nationale Erbe kümmern."
In einer Gesellschaft, in der alle sowohl überwachen als auch überwacht werden, existiert keine Privatsphäre, nicht einmal in der Knabentoilette. Die Lust am Beschatten und der erotische Kick, der dieses Beschatten intimer Momente vermittelt, kommen anhand der Ausführungen und Beobachtungen der Aufseherin bestens zum Ausdruck. Schliesslich wird auch María Teresa zur Beschatteten, denn wo eine Aufseherin ist, gibt es auch einen Oberaufseher. Dieser entdeckt María Teresa auf ihrem Beobachtungsposten in der Knabentoilette. Schutz wird zu Grauen: Herr Biasutto, den María Teresa vorgängig als "ein erfahrener, mutiger, höflicher, gut erzogener Mann von Welt" beschreibt, wählt die Knabentoilette als den Ort, an dem er die 20jährige María Teresa mehrfach sexuell missbraucht.
Die sechzehn Kapitel tragen insgesamt fünf verschiedene Namen, die sich fortlaufend wiederholen: Juvenilia (ein "Klassiker unter den Büchern, die zum Lektürekanon der Schule gehören"), Hort der Aufklärung, Siebte Stunde, Sittenlehre und Wachträume. Der Versuch, die gleichnamigen Kapitel ausschliesslich einer bestimmten Thematik zuzuordnen, scheitert insofern, als es sich bei den Überschriften um die im Buch allgegenwärtigen Themenfelder handelt, welche mit der Erstnennung im Kapitel eingeführt und anschliessend im Gesamtkontext verwendet werden.
Der 1967 geborene Martín Kohan beschreibt auf subtile und bedrückende Art und Weise, wie sehr sich eine Person - bei der "Sittenlehre" ist es María Teresa, bei "Zweimal Juni" ein junger Rekrut - Autoritäten verpflichtet und dabei nie eigene Bedenken oder Kritik am System äussert, sondern sich diesem mit letzter Konsequenz unterordnet. Neben der literarisch hochstehenden Erzählweise, gelingt es Kohan beeindruckend gut, den Leser in das Geschehen mit einzubeziehen, so dass sich dieser ebenfalls bald als Komplize, Beobachter, Beobachteten und Mitschuldiger fühlt. Für "Sittenlehre" ist Martín Kohan 2007 mit dem Premio Herralde ausgezeichnet worden.

Mehr als die Summe seiner Teile
Wackelkontakt, der neue Wolf Haas, ist ein intellektuelles Puzzle, das sich zum großen Ganzen zusammenfügt. Genial!
WackelkontaktEin „extrem aesthetizistisches Werk“, und das „auf eine negative Art“
Heinrich Manns Roman "Der Untertan" schildert in Diederich Heßling einen der wohl widerlichsten Protagonisten der Weltliteratur.
Der UntertanEin Mann, der nach Vergebung sucht, muss einen weiten Weg gehen
Leon de Winter hat sich in seinem ersten neuen Roman seit "Geronimo" (2016), "Stadt der Hunde", viel vorgenommen: Metaphysik, Mystik und Medizin.
Stadt der HundeSie sind ja ein Fan!
Es gibt wenige gute Romane über Fußball. Einen hat der tschechische Autor Karel Poláček geschrieben. Sein Feindbild: die Fans!
Männer im AbseitsSatire vom Feinsten
Ein köstlicher Dialog über Gott und die Welt in einem Zugabteil. Eine Miniatur über das große Ganze.
In einem ZugDie Gegenwart einer Dystopie
Eine brillant geschriebene Dystopie, die sehr viel mit der Welt zu tun hat, in der wir bald (oder schon) leben.
Blue Skies