Nicole Knörr: Magere Jahre

Einerseits - andererseits

Der Titel "Magere Jahre: Wie ich meine Essstörung überwand" von Nicole Knörr machte mich neugierig, sicherlich weil ich selbst eine genussvolle Esserin bin. Wie kann man auf gutes Essen verzichten? Wie hält man den Blick in den Spiegel aus und wie schafft man es, von 300 ml fettfreier Brühe am Tag zu leben?

Vorab: Meine Neugierde wurde nicht befriedigt. Es bleiben offene Fragen nach der Lektüre des gerade im Patmos-Verlag erschienenen Buchs. Der Feind Magersucht, im Fall der Autorin eine atypische Anorexie, wird zwar recht gut dargestellt als eine Stimme im Kopf, die die Kontrolle über das Essverhalten hat. Was bezweckt die Autorin mit dem Buch? Soll es eine Hilfestellung für Betroffene und ihre Familien sein? Ist es eine Art Selbsttherapie? Oder der Versuch öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen?

Die junge Frau ist ein Mädchen von 13 Jahren, als sie anorektisch wird, die Eltern sich scheiden lassen. Doch dies ist nach Knörr nicht das von ihr im Buch erwähnte und nie näher bezeichnete erlebte Trauma: "Die Trennung machte mir wenig zu schaffen, denn ich war überzeugt, meine Eltern würden beide getrennt glücklicher sein."

Viel Einsicht für ein Mädchen in diesem Alter, und - bei allem Respekt - es klingt zu erwachsen und verkopft, um vollkommen wahr zu sein. Was es wohl auch nicht ist, was klar wird, wenn man weiter liest: "In dieser Zeit, im Frühjahr 2010, begann meine Magersucht, mit dreizehn Jahren. ... Auch in der Familie gab es einige Spannungen. Hinzu kam eine traumatische Erfahrung im Winter 2010. Sie riss mich aus meiner jungen Jugend, sie zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich wollte mit jemandem darüber reden, wusste aber nicht, mit wem, und außerdem konnte ich die richtigen Worte dafür nicht finden." Das entspricht dann doch eher einer 13-Jährigen. (Nebenbemerkung: Stilistisch hätte ein Lektorat die "junge Jugend" und einige Wortdoppelungen verhindern sollen).

Liest man den Absatz zu Ende, der mit dem Satz "Und ich wollte auf keinen Fall mehr eine Frau und erwachsen werden" schließt, hebt dies eine Aussage auf, die nur drei Absätze zuvor gemacht worden war: "Ich freute mich geradezu darauf, zu einer erwachsenen Frau heranzuwachsen, auch wenn ich sehr gerne Kind gewesen war." Aus den Zeitangaben Frühjahr und Winter 2010 ist zu schließen, dass nicht das Trauma als Auslöser der Anorexie fungierte, sondern sich hinzuaddierte.

Als Nicole Knörrs Untergewicht sich in lebensgefährliche Bahnen bewegt, versucht sie, Heilung zu finden. Jetzt will sie leben, um ihrer Familie den Schock des eigenen Todes zu ersparen. In den kommenden Jahren wechseln sich Krankheitseinsicht mit Rückfall und Anorexie mit Bulimie ab. Es ist ein stetiges Einerseits/andererseits. Dieses Hin- und Her ist der nachvollziehbare Teil der Lektüre. Heute ist die Autorin 20 Jahre und hat erkannt, dass der Weg aus der Essstörung noch lange nicht - auch wenn der Untertitel das Gegenteil suggeriert - zu Ende ist.

Als jemand, der Magersucht nicht selbst oder im direkten sozialen Umfeld erlebt hat, ist die Feststellung, ob das Buch für essgestörte Jugendliche und deren Familien hilfreich ist, schwer zu treffen. Zweifel daran lassen sich jedoch nicht zur Seite schieben und werden durch die Facebook-Seite der Autorin und die Werbung des Verlags als Titel zum "Trendthema Magersucht" nur geschürt.

Magere Jahre
Magere Jahre
Wie ich meine Essstörung überwand
184 Seiten, broschiert
Patmos 2017
EAN 978-3843609883

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