Der Mensch hinter dem Mafioso
"Federico Varese is two writers rolled into one: a fearless fact-hunter who goes after his quarry with the zeal of a thoroughbred journalist, and a dedicated academic who examines and analyzes his catch with relentless detachment." (John Le Carré)
Der Soziologe Federico Varese, Professor für Kriminologie an der Universität Oxford, ist seit vielen Jahren Experte für das organisierte Verbrechen. Seine früheren Arbeiten über die russische Mafia und die Erschließung neuer krimineller "Märkte" zählen zu den Standardwerken dieses Genres bzw. Fachgebiets. Auch mit seinem neuesten Werk vereinigt Varese in der Tat zwei Schriftsteller in einem: "der furchtlose Faktenjäger, welcher seine Spur mit dem Fieber des Vollblutjournalisten verfolgt, und zugleich der unbestechliche Wissenschaftler, welcher seine Beute mit schonungsloser Objektivität analysiert".
Im Unterschied zu Italiens wohl berühmtestem Mafia-Rechercheur, dem Journalisten Roberto Saviano, welcher in seinem Buch "Gomorrha" die Strukturen und das Betätigungsfeld der süditalienischen Camorra vor Ort, d. h. rund um seine Heimatstadt Neapel, in seiner ganzen Breite und Gewalt sichtbar machte und dabei Ross und Reiter offen und schonungslos nannte, wählt Varese eine andere Arbeitsweise. Seine Recherchen führten ihn nach Sizilien und in die USA, nach Russland, Hongkong und Japan, um Material über die Machenschaften insbesondere der Cosa Nostra und der italo-amerikanischen Mafia, der russischen Wory, der Triaden von Hongkong und der japanischen Yakuzas, zusätzlich zu den Studien über die britische Mafia, zusammenzutragen. Seine Erkenntnisse basieren vor allem auf dem Beweismaterial der Strafverfolgung, d. h. auf von der Polizei abgehörten Gesprächen und Telefonaten, aber auch auf Beiträgen der internationalen Presse sowie auf bislang noch unveröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen. Nicht zuletzt aber wagte sich der Autor tief ins Herz des organisierten Verbrechens und es gelang ihm sogar, etliche Mafiosi zu interviewen. Dabei ließ er nach eigenen Aussagen kein "Gefühl einer Bedrohung" aufkommen, erkundigte sich nicht nach spezifischen Details, etwa "Wer hat wen getötet?", wie es investigative Journalisten oder Polizisten handhaben würden, sondern gab sich eher als "heiliger Narr" und "akademischer Simpel".
Inhaltlich geht es dem Sozialwissenschaftler Varese in erster Linie um eine Art "innerbetriebliche Analyse" der Mafia, insbesondere um deren Sozialstrukturen, Entscheidungsprozesse, Handlungsmuster und Techniken des täglichen Existenzkampfes: "Mit diesem Buch möchte ich den menschlichen Aspekt krimineller Verschwörungen in den Vordergrund rücken". In kurz betitelten Kapiteln wie "Geburt", "Arbeit", "Geschäftsführung", "Geld", "Liebe" und "Tod" gibt der Verfasser anhand von Fallgeschichten einen intimen Einblick in die Lebensweise der Mafiosi. Dazu zählen u. a.
- die bizarren Aufnahmerituale voll pseudoreligiöser Symbolik, welche den Kontrakt auf Leben und Tod besiegeln sowie den Novizen zum vermeintlichen "Ehrenmann" machen;
- die strengen hierarchischen Strukturen mit absoluter Unterordnung und dem Schwur einer totalen Verschwiegenheit nach außen;
- die Ausübung "schmutziger Geschäfte", einschließlich der Bereitschaft zum Mord;
- die ehernen Mafia-Gesetze, beruflicher Stress, Leben im Untergrund sowie Angst vor Entdeckung und langen Gefängnisaufenthalten;
- ein durch die Mafia-Gebote und durch den Kult der Maskulinität vergiftetes Familienleben;
- die staatsähnlichen Steuerungsmechanismen, welche für die "Ordnung und Gerichtsbarkeit" unter den verschiedenen und teilweise untereinander in Konkurrenz stehenden Clans sorgen;
- die Bestrafungsrituale bis hin zu grausamen Folterungen und bevorzugten Tötungstechniken.
Im Kapitel "Politik" wird schließlich auch erörtert, wie eine Mafia-Organisation zum Staat werden kann und wie Staaten oft einer Mafia ähneln.
Varese macht deutlich, dass trotz der kulturellen Unterschiede das weltweit organisierte Verbrechen nahezu identische Entstehungsgründe, Strukturen und Arbeitsweisen aufzeigt. Immer dann, wenn Gesellschaften von Umbrüchen und wirtschaftlichen Verwerfungen erschüttert werden und der betreffende Staat versagt, schlägt die Stunde der Mafia: beispielsweise in Sizilien infolge des Untergangs des Feudalsystems und den Umwälzungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie in Russland durch den stalinistischen Staatsterror und den Zusammenbruch der Sowjetunion. Dann können Parallelgesellschaften entstehen, Märkte beherrscht und das Finanzwesen unterwandert sowie die Politik infiltriert und sogar ganze Städte bzw. Regionen in den Würgegriff genommen werden.
Varese ist dennoch der Überzeugung, dass die Mafia besiegt werden kann. Er greift auf ein Zitat des italienischen Untersuchungsrichters Giovanni Falcone zurück, den die Cosa Nostra vor ca. einem Vierteljahrhundert, zusammen mit dessen Ehefrau und drei Leibwächtern als Rache für den sog. Maxi-Prozess gegen rund 400 Mitglieder der Mafia, in der Nähe von Palermo aus dem Leben bombte. "Mafiaorganisationen sind ein menschliches Phänomen: Sie entstehen, wachsen heran, und irgendwann sterben sie." Im Schlusskapitel zeigt Varese, wie demokratische Staaten das Mafia-System austrocknen können und plädiert, auch mit Blick auf den islamistischen Terrorismus und die Entstehung von Parallelgesellschaften, für ein effektives Justizsystem sowie für einen Staat, der sich um gesellschaftliche Integration und Chancengleichheit bemüht. "Und schließlich braucht der Kampf gegen das Böse Helden - solche, die den Mut haben, ihn an vorderster Front zu führen. Sie beweisen uns, dass Mafiosi auch nur Menschen sind und sich durchaus von entschlossenen Bürgern einschüchtern lassen."
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