Grenzgängerinnen

Zwei Frauen stehen am Meer. Attraktiv sind sie. Die eine dunkel, die andere blond, in Sommerkleidung mit weißen T-Shirts und Tennisschuhen. Sie wirken wie Schwestern, Hand in Hand an der italienischen Riviera. Doch sie sind unterschiedlich - von Geburt: die eine Muslimin, die andere Christin, mit einer gemeinsamen Vergangenheit, die sie wiederum verbinden. Beide sind Libanesinnen, die vor 15 Jahren ihre Heimat verließen. Aus diesem Spannungsfeld entwickelt die renommierte Schriftstellerin Hanan al-Shaykh ihren jüngsten Roman "Zwei Frauen am Meer". Vorsichtig führt Al-Shaykh in beider Vorgeschichte ein, in ihre Erlebnisse, Sehnsüchte, den Kampf um Freiheit. Schritt für Schritt lernt der Leser Geschichte und Geschichten kennen, setzt die Ausschnitte nach und nach zu einem immer klareren Bild zusammen. Wechselweise aus der Innenperspektive schildert sie die Erinnerungen ihrer beiden unterschiedlichen Protagonistinnen, die sich in ihren Gefühlen und Wünschen wiederum so ähnlich sind. Da ist die zurückhaltende Muslimin Hoda, die sich Schritt für Schritt von ihrer tief religiösen Familie entfernt. "Mein Gott" flüstert sie, als sie sich zum ersten mal in einem Badeanzug sieht, "jetzt trage ich einen Badeanzug". Auch heute bleibt der jetzigen Theaterregisseurin diese Welt und ihre Überwindung bei jedem Schritt allgegenwärtig. Auf der anderen Seite Yvonne, die selbstbewusste Draufgängerin und erfolgreiche Chefin einer Werbeagentur. "Ich bin am Meer geboren" erzählt sie den jungen Italienern, als sie von den hohen Felsen springt. Auch für sie bleibt ihre Vergangenheit und ihre Heimat Libanon immer präsent - als ein Ort der Erinnerung an ihre Kindheit, bevor der Bürgerkrieg sie zerstörte. "Das Meer kletterte in Yvonnes Bett und nistete sich in ihren Gedanken ein". Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nun stehen sie im gemeinsamen Urlaub am Strand - die eine zu Besuch aus Kanada, die andere aus London - und erinnern sich an ihre erste Begegnung mit dem Meer. Denn wegen des Meeres haben sie im Leben viel gelitten und es dann doch zum Symbol für die Emanzipation aus ihren Familienbanden gemacht. Hoda durch ihre früheren verbotenen Ausflüge ins Frauenbad von Beirut und die daraus resultierende Trennung von der strenggläubigen Familie. Für Yvonne als Quelle für Stärke und Selbstvertrauen genauso wie für ihre Trennung von der Familie. Beide sind auch auf der Suche nach der Liebe. Hoda nach ihrem ersten Mann, Yvonne nach dem Partner, der mal nicht vor ihrem Selbstbewusstsein davon läuft. Und beide werden Männern begegnen - Hoda dem Ingenieur Alberto, Yvonne dem jungen Luigi. Die im Jahre 1945 geborene Libanesin Hanan al-Shaykh zählt zu den bekanntesten Autoren ihrer Heimat. Mit "Zwei Frauen am Meer" hat sie einen besonderen Roman geschrieben. Warm, ruhig und intensiv in der Sprache. Und vor allem voller Symbole und Bilder. Weiße Felsen werden zu gigantischen Stiften, "wie Kakteen, teils glatt, teils rauh, gezackt mit weiter, runder Oberfläche wie ein freundliches Gesicht", andere zu wilden Hengsten, "fahlschwarz und porös wie Zähne". Wachsende Brüste verbindet Yvonne mit Eiern, die aufbrechen, bevor man sie in die Pfanne wirft, Hoda erinnert buschiges Schamhaar an die "braunen Fäden von Maiskolben" und das Meer an Zuckerwatte: "Je mehr sich davon im Mund auflöst, desto gieriger verlangt man danach." Die Beiruter Autorin erzählt von zwei emanzipierten Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft, deren Freundschaft auch kulturelle Grenzen nichts anhaben können, von zwei aufeinander prallende Welten, dem gestern und heute, die sich für einen Tag am italienischen Meer vereinen. Dabei sind beide Frauen Grenzgängerinnen geblieben, die jeden Schritt, jeden Geruch, jedes Erlebnis in Verbindung mit einer Vergangenheit bringen, die weit zurück liegt, aber in diesen Momenten wieder hervorsticht.

Zwei Frauen am Meer

Bild statt Wort

Einen gravierenden Mangel hat das Buch allerdings: es ist kostenlos.

100 Meisterwerke der Weltliteratur

Feier der Sprache

"Bahnhofsprosa" ist nicht Alltagsbeobachtung und erzählt keine Anekdoten von Menschen, die ihren Zug gerade verpasst haben, sondern hier feiert die Sprache sich selbst.

Bahnhofsprosa

Das Reiben an den Verhältnissen

Die 1960 geborene Polina Daschkowa ist nicht umsonst eine Bestsellerautorin in ihrer russischen Heimat und hat sich nicht umsonst mit ihrem Debütroman "Die leichten Schritte des Wahnsinns" auch das nichtrussische Publikum erobert. Ihr zweiter, jetzt auf Deutsch im Aufbau Verlag vorliegende Roman "Club Kalaschnikow" beweist dies. Es ist ja bekannt, dass es zu den Funktionen eines guten Kriminalromans gehört, etwas über die Gesellschaft zu erzählen, in der er spielt. Und genau dies macht "Club Kalaschnikow". Der Roman ist ein Kurs in neuerer russischer Alltagsgeschichte, der Leser erfährt wie es in der spätkommunistischen und postkommunistischen Zeit Russlands zuging und zugeht. Das fremde Russland erhält ein Gesicht, insbesondere was die neue russische Gesellschaft betrifft. Um was geht es? Der Besitzer des Casinos "Sternenregen" Gleb Kalaschnikow, verheiratet mit der Primaballerina Katja, ist nicht der angenehmste Zeitgenosse. Er trinkt zuviel, legt sich gerne mit den Menschen an, betrügt seine Frau. Nach einer Theaterpremiere Katjas brechen die beiden frühzeitig von der Premierenfeier auf und fahren nach Hause. Noch bevor sie das Haus betreten können, wird Gleb von einem Schuss tödlich getroffen. Da Auftragsmorde in dem Milieu Glebs nicht ungewöhnlich sind, erwägt man zunächst einen solchen. Schließlich verkehrt Gleb nicht nur in den obersten Kreisen, sondern sein Casino wird auch durch einen "Dieb im Gesetz", einen Paten, kontrolliert, der es wiederum gegen einen Konkurrenten zu verteidigen hat. Aber im Verlaufe der Untersuchungen wird schließlich Olga, die letzte Geliebte Glebs, verdächtigt geschossen zu haben und in Untersuchungshaft genommen. Soweit zur erzählten Handlung. Das Buch ist aber durch die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, weit mehr als ein Roman um einen Mord. Daschkowa erzählt nämlich ganz langsam, sie leistet es sich, ihre Charaktere mit einer Biografie auszugestalten, in der Zeit zurückzugreifen, auch Nebenfiguren erhalten eine Vergangenheit auf den insgesamt 445 Seiten. Der Leser ist zur Aufmerksamkeit gezwungen, will er sich nicht in den Zeitsprüngen der Lebensläufe verlieren. Daschkowa möchte, dass man ihre Protagonisten versteht, dass ihre Entwicklung und ihre Beweggründe erkennbar sind, und läßt mit dieser Strategie auch das Russland der Vorwendezeit vor dem Auge des Lesers auferstehen. Sie schildert die Überlebensstrategien im alten Russland, das Scheitern mancher im neuen Russland, aber auch wie es anderen gelingt, in der neuen Zeit zu einem schnellen Erfolg zu kommen. "Geld regiert die Welt", diese nicht neue, fast banale und trotzdem so wahre Weisheit ist auch in der neuen russischen Demokratie angekommen und wer zudem noch über das richtige Netzwerk, sprich Beziehungen, verfügt, macht seinen Weg. Unabhängigkeit gepaart mit Erfolg sind praktisch ausgeschlossen. Die Zwänge, denen die Menschen im alten System ausgesetzt waren, sind lediglich ausgetauscht worden, denn die neuen mafiösen Kontrollsysteme sind den alten Beziehungen nicht unähnlich. Die frühere vorgebliche Einheitsgesellschaft hat sich zu einer zweifachen Klassengesellschaft mit Reichen und Armen entwickelt. Beide Schichten könnten noch weiter aufgesplittet werden und werden von Daschkowa bis hin zum Quasi-Obdachlosen porträtiert. Das Land ist im Kapitalismus angekommen, aber wie auch in den Frühzeiten anderer kapitalistischer Systeme sind die Diskrepanzen unerträglich stark und werden es solange sein, wie der gesellschaftliche Umbau braucht. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm lassen an das 19. Jahrhundert Europas und der USA denken, mit den immens Reichen der Gründerzeiten und den bitterarmen Menschen, mit deren Arbeitskraft der Reichtum der anderen geschaffen wurde. Die Schilderungen der Moskauer Wohnverhältnisse sind nur ein Beispiel dafür und erinnern in der Belegungszahl an die Arbeiterbehausungen Berlins oder New Yorks. Wie Christa Wolf bei der Verleihung des Deutschen Bücherpreises für ihr Lebenswerk noch einmal sagte, bedeutet Literatur auch die Reibung an den Verhältnissen. Und genau das kann Polina Daschkowa als Motivation unterstellt werden. Sie reibt sich an den Umbruchzeiten mit den negativen Ausprägungen, verarbeitet diese literarisch und hält ihren Landsleuten den Spiegel vor, zeigt ihnen in welchem Stadium sie sich befinden. Jeder muss für sich entscheiden, welchen Weg er/sie wählt, um in der neuen Gesellschaft anzukommen. Dabei geht es oft um die schlichte Frage, wieviel Moral man sich leisten kann und wann Moral sich zu Unmoral wandelt. Das Theater in dem Katja tanzt, hätte ohne die Sponsorengelder Glebs nicht existieren können, nur durch die Symbiose mit dem Nachtclub war es möglich das Ballett aufrechtzuerhalten, der Truppe Lohn und damit Brot zu geben. "Entweder stimmte Katja zu, den Platz von Gleb einzunehmen, kopfüber in den dunklen, gefährlichen, übelriechenden Sumpf mit dem schönen Namen "Glücksspiel" zu tauchen; dann brauchte sie sich um das Theater und um ihr eigenes materielles Wohlergehen keine Sorgen mehr zu machen. Oder sie rümpfte weiterhin verächtlich die Nase (... ). Die Wohnung und den Wagen würde ihr niemand wegnehmen, aber das Theater wäre ruiniert. (...) Einige würden ein neues Engagement finden, aber viele würden auf der Straße stehen. Schuld wäre nur sie allein." Katja fühlt sich verantwortlich für ihre Kollegen im Theater, sie muss ihre moralischen Bedenken über den Haufen werfen, um den Menschen in ihrer nächsten Umgebung eine Perspektive für das weitere Leben zu geben. Katja kennt aber auch die Risiken, die sie damit eingeht, denn der Mann, der den Club kontrolliert, kommt ihr als zwar als Freund entgegen, doch darf sie sich keinen Illusionen hingeben, denn Lunjok ist ein "Pate", für den Menschen, die sich seiner Kontrolle entziehen, nicht existieren. Katja ist durch den plötzlichen Tod ihres Mannes aufgewacht, sie sieht den Dingen nun realistisch ins Auge, wird aktiv und tut, was sie tun muss. Früher kümmerte sie sich nur um das Ballett, ließ alles andere von sich abprallen, nutzte was sie durch den Tanz gelernt hatte: Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung. Diese Eigenschaften wird sie weiterhin brauchen, doch auf andere Art als bisher einsetzen. Sie ist im Club Kalaschnikow, der Metapher für Beziehungen und Abhängigkeiten angekommen. Doch weil Katja die Unterschiede von Moral und Unmoral bekannt sind, wird sich unter ihrer Führung der Club verändern. Und dies ist wahrscheinlich, ob man es mag oder nicht, die realistische Sichtweise eines gesellschaftlichen Wandels und Neubeginns. Der Umbruch kann nicht von heute auf morgen funktionieren. Sinn macht nur das langsame Hineinwachsen in das Neue, versehen mit einem langen Atem, bis die alten Strukturen ihre Macht verloren haben.

Club Kalaschnikow

Sprache und Erotik

André Pfoertners zweiter Gedichtband trägt den Titel "Cogitative Erotik". Auch wenn der Titel etwas befremden mag, lässt sich doch erahnen, worum es in Pfoertners Gedichten gehen könnte: Einerseits um die Erotik als sinnlich-körperliches Erleben und andererseits um deren Überführung in ein Cogito, d.h. schlussendlich in Sprache. Die Spannung zwischen der Unmittelbarkeit von Erotik und der Mittelbarkeit von Sprache, die sich im Titel ankündigt und eine interessante Ausgangslage für einen Gedichtband gewesen wäre, entpuppt sich jedoch als Effekthascherei. Mit viel Getöse und schwerem Geschütz geht es auch gleich los. "Ferrosophie", eines der ersten Gedichte, ist eine Lobeshymne auf die stählerne Männlichkeit: "Eisen [...] Reckt gar gierig sich empor - / Senkrecht wird das Eisen groß - / Greift schon nach der Wolken Flor, / Bohrt sich in des Himmels Schoss, / Der sich durchbohren lässt gar stoisch. /Eisen - / das ist männlich und heroisch." Manchmal geht es aber auch ganz heiter zu und her. Beispielsweise das Gedicht "Schönheit vom Lande" (im Untertitel: "Die erotische Ausstrahlung rustikaler Schönheit") ist an unfreiwilliger Komik schwer zu übertreffen: "Der Duft deines Körpers stieg gewaltig zu mir / Wie Champagner-Musik von Rossini. / Dein Parfüm mischte duftend sich in diese Kür: / Gabriela Sabatini." Da muss man erst drauf kommen! Man wünschte sich, Pfoertner hätte da und dort etwas weniger dick aufgetragen und das eine oder andere sprachliche Klischee ausgelassen. Denn so, wie sich Lyrik in diesem Band präsentiert, ist sie nichts als eine bunte Verpackung, ohne Tiefgang und letztendlich nur darauf bedacht, zu gefallen.

Cogitative Erotik

Die Kruste des Lebens

Da sitzt man mit den Lesenotizen in der chinesischen Kladde, die chinesische Thermoskanne mit dem Tee neben sich, noch ganz benommen von der Lektüre des auf Deutsch erschienenen "Das Auge von Tibet" von Eliot Pattison vor seinem Laptop, um den Roman zu rezensieren. Fast verschluckt man sich bei dem Gedanken an die chinesischen Produkte mit denen man doch indirekt China unterstützt. Das mag lächerlich sein, zeigt jedoch sehr deutlich die Wirkung die der Amerikaner Pattison mit seinem Roman erzielt. Es ist ihm gelungen, ein Anliegen zu transportieren. Denn dieser Roman ist nur vordergründig ein Krimi, im Grunde genommen handelt es sich um einen politischen Roman, einen Roman über das neue China und den Umgang mit den Minderheiten im Land. Merkwürdig aktuell wird der Text mit einem kürzlich erschienen Zeitungsbericht des Berliner Tagesspiegels, in dem über einen polizeilichen Einsatz und die Willkür der Beamten gegen einen tibetischen Lama in Berlin berichtet wird. Auf der Handlungsebene von "Das Auge von Tibet" spielt, wie schon im ersten Roman des Autors, der ehemalige Ermittler Shan - früherer Regierungsbeamter, dann Häftling im Gulag - die tragende Rolle. Obwohl, genaugenommen, muss der Hauptprotagonist sich seine Rolle mit Tibet teilen. Denn die religiösen Traditionen, die Lamas und ihre Überlieferungen sind auch für den Han-Chinesen Shan zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, er wurde sozusagen "tibetisiert". Shan hält sich in einem tibetischen Kloster auf, offiziell wurde er nie aus dem Lager entlassen und darf sich nur im Bezirk Lhadrung aufhalten, weshalb er keine Papiere besitzt. Als nun die Mönche des Klosters von der Ermordung einer Lehrerin und dem Verschwinden eines Lamas außerhalb Lhadrungs erfahren, erhält Shan die Aufgabe zu ermitteln, was geschehen ist. Er macht sich gemeinsam mit einem Widerstandskämpfer, einem alten Tibeter und dem Mönch Gendun auf den Weg in den Norden. Shan kann nur verdeckt ermitteln, da die Gruppe Lhadrung verlassen muss. Er wird damit zu einem Illegalen. Die Lehrerin Lau, zuständig für eine Gruppe Waisenkinder, soll ertrunken sein, was sich bald als falsch erweist. Spätestens, nachdem Shan von dem gewaltsamen Tod zweier Schüler Laus erfährt, kann er nicht mehr locker lassen, er muss, auch wenn er manchmal nicht weiter weiß, die Wahrheit finden, denn er befürchtet, dass noch mehr Waisenkinder Opfer des oder der Mörder werden könnten: "Etwas hatte die empfindliche Balance gestört, und nun starben Menschen deswegen." Wir dürfen uns von der Öffnung Chinas, von dem chinesischen Kapitalismus sozialistischer Prägung, nicht täuschen und blenden lassen, sagt und warnt uns der Autor mit diesem Roman, denn noch ist China weit davon entfernt eine freie Gesellschaft zu sein. Religionsausübung ist noch immer ein Grund für Verhaftungen (wie jüngst nur Stunden nach der Abreise des amerikanischen Präsidenten), Tibet noch immer nicht in Unabhängigkeit, der Dalai Lama ins Exil gezwungen. Aller Öffnung zum Trotz, führen die Minderheiten ein klägliches Leben um ihre ethnische Identität. Warum nur tun sich Regierungen so schwer mit der Bewahrung der Traditionen durch ihre ethnischen Mitbürger? Da ist China ja kein Einzelfall, müssen sich auch westliche Kulturen an die eigene Nase fassen, doch die programmatische und gewalttätige Unterdrückung und Ausrottung, die gilt für die Volksrepublik China unter dem Mantel nur dem Volk zu dienen. Shans Erkenntnis jedenfalls ist, "daß eine Arbeit im Dienst der Regierung nicht immer dasselbe ist wie eine Arbeit im Dienst des Volkes". Dem Roman gelingt es, die vielen existierenden Welten, ob mythologisch oder politisch, zu vermitteln: "In gewisser Weise glich die gesamte Volksrepublik China einem bunt zusammengewürfelten Stück Stoff, einem Flickwerk aus ineinander verwobenen Menschen, Kulturen und Historien, die durch Zwang und Doktrin notgedrungen ein Ganzes bildeten, wußte Shan." Der Roman ist keine Anklage an ein sozialistisches System an sich, ist nicht geprägt von einer Kommunistenphobie. Pattison erkennt sehr wohl, dass auch der Kapitalismus US-amerikanischer Prägung sich von den Menschen selbst entfernt hat, die Menschen über ihren Besitz definiert. "Niemand ist verantwortlich. Die Leute lehnen sich einfach zurück und lassen das Übel geschehen. Wälder werden abgeholzt. Kulturen werden zerstört, Traditionen verworfen, weil sie nicht Internetkompatibel sind. Kinder wachsen in dem Glauben auf, das Fernsehen sei überlebensnotwendig. All ihre Wertbegriffe entstammen der Werbung." Das amerikanische Paar, welches sich aus dieser Erkenntnis heraus der Verantwortung stellt, muss bitter mit dem Tod des Sohnes dafür büßen. Wären sie in den Staaten geblieben, hätten sich der Masse angeschlossen, wäre ihr Sohn um wundervolle Erfahrungen im Leben mit den Nomaden ärmer, doch am Leben. Nach tibetischer Sicht ist dies aber unwichtig, denn Wahrhaftigkeit stellt ein weit höheres Ziel als Lebensalter dar. Überhaupt können Pattisons Schilderungen tibetischer Traditionen ein wunderbarer Ansatz zur Beschäftigung mit diesen sein, wie z.B. die Übung "Kruste des Lebens": um zur wirklichen Oberfläche der Steine vorzudringen, ihre Schönheit unter der Schmutzkruste zu erkennen, werden sie mit Wasser abgewaschen. Eliot Pattison hat eine Ausbildung zum Rechtsanwalt und verdiente sein Geld als Berater für die Wirtschaft. Daneben publizierte er im journalistischen Bereich und schrieb bzw war Herausgeber von Büchern, die sich mit wirtschaftlichen und juristischen Themen beschäftigten. Er hielt sich wiederholt als Reisender in China auf. Pattison hat nicht nur vor Ort Eindrücke gesammelt, sondern sich auch mit dem Tibet vor der Besetzung durch China beschäftigt. Man spürt, der Autor hat seine Aufgabe ernst genommen und deshalb glaubt man ihm auch das Anliegen des Romans. Es muss darauf hingewiesen werden, dass man mit dem "Auge von Tibet" ein dickes Buch vor sich hat, es sind ohne die Worterläuterungen und die Schlussbemerkung des Verfassers 691 Seiten zu bewältigen. Aber es sind 691 traditionell erzählte Seiten, die sich lohnen, auf denen man angeregt wird, auch über den eigenen Tellerrand zu blicken, sich eines wirklich magischen Landes zu erinnern, eines Landes, dessen Menschen Glück und Zufriedenheit ausstrahlen, trotz all des Leids, welches sie und ihr Land erfahren haben. Wenn Pattison die Gesichter der tibetischen Mönche beschreibt, strömt deren Ruhe und Ausgeglichenheit förmlich aus den Seiten heraus und man sieht die fröhlichen Gesichter vor sich. Der Klappentext übertreibt in keinster Weise, wenn es da heißt, Eliot Pattison habe die Seele Tibets eingefangen, denn es gelingt ihm, tibetische Mythologie und Lebenseinstellung darzustellen. In der Schlussbemerkung erfährt der Leser, nicht nur Figuren, sondern auch viele Schauplätze der Erzählung sind fiktiv und bekommt weiterführende Literaturhinweise.

Das Auge von Tibet

Gewinnerlos

Die Autorin wird einigen bekannt sein, denn "Der Flusskönig" ist immerhin der vierzehnte Roman der 1952 geborenen Amerikanerin. Es ist kein lautes Buch, keines das nach einer Fortsetzung oder Verfilmung ruft! Der Roman lebt von seinen Bildern, er ist überaus stimmungsvoll und poetisch erzählt. Es ist ein leises Buch, welches keinerlei großer Aktionen bedarf um die Atmosphäre des kleinen fiktionalen Ortes Haddan am gleichnamigen Fluss in Massachussetts zu beschreiben. In diesem Haddan gibt es eine Internatsschule von Tradition und nun wäre es einfach zu sagen, "Der Flusskönig" steht in der Folge von Donna Tartts "Die Geheime Geschichte". Es erinnert lediglich an Tartt, und ist doch ein ganz anderes Buch. Es gibt nicht ein Thema des Buches, es sind viele zwischenmenschliche Inhalte, die angerissen und angesprochen werden: Freundschaft/Familie, es geht um Tote und Überlebende, um Schuld und Reue, aber auch Schuld und Sühne, Ignoranz/Arroganz, Mut und Feigheit, Hass und Liebe und - nicht zu vergessen, - die Trauer, die das ganze Buch wie ein roter Faden durchzieht: die Trauer der Toten und die Trauer der Überlebenden. Die Haddan School besteht seit mehr als hundert Jahren und doch ist sie ein Fremdkörper für die Einheimischen geblieben. Einwohner und Lehrpersonal haben nichts miteinander zu schaffen. Die letzte Gelegenheit, dies zu ändern, ging mit der unglücklichen Ehe zwischen der Dorfschönheit Annie Jordan und dem Schuldirektor Dr. Howe gründlich daneben und endete mit Annies Selbstmord. Schulangehörige und Einheimische leben nebeneinander her, es gibt keine offenen Feindseligkeiten, aber auch keine Freundschaften. Daran würde normalerweise auch der Tod eines Schülers, Augustus Pierce, nichts geändert haben, wäre da nicht der Polizist Abel Grey, der spürt, hinter Gus' Tod steckt mehr als ein Unfall. Und Abel läßt sich von nichts und niemandem abhalten, eine Erklärung zu finden, denn "(...) Abe wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Toten sprachen und den Lebenden die Schuld zuwiesen an allem, was sie getan oder unterlassen hatten." Er läßt sich auch nicht ablenken, als er ganz überraschend feststellt, dass er, obwohl er sich für immun gehalten hatte, die Liebe zu einer Frau gefunden hat. Im Verlauf des Romans muss Abel erkennen, dass ihm die vertraute Welt fremd wird, das was er zu kennen glaubte, entpuppt sich als etwas anderes. Die Menschen und die Umgebungen verändern sich, verlieren den gewohnten Anblick. Oftmals sind es die kleinen Dinge, die das Buch so liebenswert machen, wie die Erwähnung der Mäuse und ihrem Treiben, wie überhaupt die Natur mit Tieren und Pflanzen eine eigene Rolle im Personal des Romans haben dürfen: "Im Oktober, wenn die Ulmen ihre Blätter abwarfen und die Eichen von einem Tag auf den anderen gelb wurden, kamen die Mäuse aus dem hohen Gras am Flussufer und machten sich auf die Suche nach einem Unterschlupf. Die Mädchen in St. Anne's fanden sie oft in den Schubladen ihrer Kommode oder eingekringelt in ihren Schuhen neben dem Bett." An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass es der Autorin nicht um Tempo geht, sie ist mehr daran interessiert, zu beobachten und daran zu erinnern, was zu Beginn des Herbstes geschieht. Ein weiteres Beispiel zeigt eine sensible Autorin, der es gelingt mit kleinen Sätzen große Wirkung zu erzielen: "So ist das Leid: Es verfolgt den, der vor ihm flieht, und hinterlässt eine endlose Spur der Trauer." Wer Alice Hoffman als Autorin noch nicht kennt, dem sei dieses 352 Seiten starke Buch empfohlen, wer sie kennt, wird es ohnehin lesen.

Das Orangenmädchen

Sprechende Tote

Die Autorin wird einigen bekannt sein, denn "Der Flusskönig" ist immerhin der vierzehnte Roman der 1952 geborenen Amerikanerin. Es ist kein lautes Buch, keines das nach einer Fortsetzung oder Verfilmung ruft! Der Roman lebt von seinen Bildern, er ist überaus stimmungsvoll und poetisch erzählt. Es ist ein leises Buch, welches keinerlei großer Aktionen bedarf um die Atmosphäre des kleinen fiktionalen Ortes Haddan am gleichnamigen Fluss in Massachussetts zu beschreiben. In diesem Haddan gibt es eine Internatsschule von Tradition und nun wäre es einfach zu sagen, "Der Flusskönig" steht in der Folge von Donna Tartts "Die Geheime Geschichte". Es erinnert lediglich an Tartt, und ist doch ein ganz anderes Buch. Es gibt nicht ein Thema des Buches, es sind viele zwischenmenschliche Inhalte, die angerissen und angesprochen werden: Freundschaft/Familie, es geht um Tote und Überlebende, um Schuld und Reue, aber auch Schuld und Sühne, Ignoranz/Arroganz, Mut und Feigheit, Hass und Liebe und - nicht zu vergessen, - die Trauer, die das ganze Buch wie ein roter Faden durchzieht: die Trauer der Toten und die Trauer der Überlebenden. Die Haddan School besteht seit mehr als hundert Jahren und doch ist sie ein Fremdkörper für die Einheimischen geblieben. Einwohner und Lehrpersonal haben nichts miteinander zu schaffen. Die letzte Gelegenheit, dies zu ändern, ging mit der unglücklichen Ehe zwischen der Dorfschönheit Annie Jordan und dem Schuldirektor Dr. Howe gründlich daneben und endete mit Annies Selbstmord. Schulangehörige und Einheimische leben nebeneinander her, es gibt keine offenen Feindseligkeiten, aber auch keine Freundschaften. Daran würde normalerweise auch der Tod eines Schülers, Augustus Pierce, nichts geändert haben, wäre da nicht der Polizist Abel Grey, der spürt, hinter Gus' Tod steckt mehr als ein Unfall. Und Abel läßt sich von nichts und niemandem abhalten, eine Erklärung zu finden, denn "(...) Abe wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Toten sprachen und den Lebenden die Schuld zuwiesen an allem, was sie getan oder unterlassen hatten." Er läßt sich auch nicht ablenken, als er ganz überraschend feststellt, dass er, obwohl er sich für immun gehalten hatte, die Liebe zu einer Frau gefunden hat. Im Verlauf des Romans muss Abel erkennen, dass ihm die vertraute Welt fremd wird, das was er zu kennen glaubte, entpuppt sich als etwas anderes. Die Menschen und die Umgebungen verändern sich, verlieren den gewohnten Anblick. Oftmals sind es die kleinen Dinge, die das Buch so liebenswert machen, wie die Erwähnung der Mäuse und ihrem Treiben, wie überhaupt die Natur mit Tieren und Pflanzen eine eigene Rolle im Personal des Romans haben dürfen: "Im Oktober, wenn die Ulmen ihre Blätter abwarfen und die Eichen von einem Tag auf den anderen gelb wurden, kamen die Mäuse aus dem hohen Gras am Flussufer und machten sich auf die Suche nach einem Unterschlupf. Die Mädchen in St. Anne's fanden sie oft in den Schubladen ihrer Kommode oder eingekringelt in ihren Schuhen neben dem Bett." An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass es der Autorin nicht um Tempo geht, sie ist mehr daran interessiert, zu beobachten und daran zu erinnern, was zu Beginn des Herbstes geschieht. Ein weiteres Beispiel zeigt eine sensible Autorin, der es gelingt mit kleinen Sätzen große Wirkung zu erzielen: "So ist das Leid: Es verfolgt den, der vor ihm flieht, und hinterlässt eine endlose Spur der Trauer." Wer Alice Hoffman als Autorin noch nicht kennt, dem sei dieses 352 Seiten starke Buch empfohlen, wer sie kennt, wird es ohnehin lesen.

Der Flusskönig

Die Öffnung der Kuppel

Der Début-Roman von Janko Kozmus spielt in der Zukunft. Schauplatz ist Afrika. Die Menschen leben unter Energiekuppeln in den Städten, da die Atmosphäre künstlich geschaffen werden muss. Jedes Jahr findet eine rituelle Öffnung der Kuppeln statt und ein erlauchter Kreis ("die Oberschicht") darf die Wüste "begehen". Die Zurückgebliebenen sind in dieser Zeit in ihren Häusern eingeschlossen und dürfen das zu einem TV-Spektakel hochstilisierte Ereignis an Bildschirmen verfolgen. Es wird deutlich, dass die Menschen den Bezug zur Natur verloren haben. Harmlosen Äffchen begegnen sie eher mit Panik als mit Faszination und Waffen, um sich vor wilden Tieren zu schützen, sind selbstverständlich. Die einzige Person, die den Schritt wagt und in Kontakt mit den Naturwesen tritt, indem sie ins Wasser springt und mit Delphinen spielt, geht vor den Augen der Zuschauer unter und bestätigt so die feindliche Haltung gegenüber der natürlichen Umwelt. Dass eine "Begehung" Tote fordert, ist nicht neu. Will man in diese Konstellation etwas hineininterpretieren, könnte man zum Schluss kommen, der Autor wolle ein überhöhtes Bild der gegenwärtigen Entwicklung unserer Zivilisation zeichnen: Zunehmende Urbanisierung, Entfremdung von der Natur, Zerstörung der Umwelt, Zweiklassengesellschaft (mobile Oberschicht und aufs Fernsehen reduzierte unkritische Unterschicht). Die an sich nicht uninteressante Idee hätte einen gesellschaftskritischen Roman geben können, gab es aber nicht. Erstens ist das Buch eher ein Bericht als ein Roman und zweitens fehlen die Hauptpersonen. So ist eine verzettelte und damit spannungslose Handlung entstanden. Kozmus berichtet erst von einer kleinen Feier anlässlich der Öffnung der Kuppel, dann von der "Begehung" aus Sicht der Zurückgebliebenen und schliesslich von dem waghalsigen Ausflug eines "Inhabitanten" auf eine verbotene Insel. Einzig in diesem dritten Teil des Romans gibt es gewisse erfreuliche Ansätze einer Verdichtung der Handlung. Neben diesem Fehlen eines roten Fadens wäre das Lektorieren des Textes nötig. Die zum Teil holprigen Satzkonstruktionen und gar gesuchten Verben und Adjektive machen die Lektüre nicht unbedingt zum Genuss. Umgangssprachliche Wortkürzungen, die zum Beispiel aus "etwas" "was" machen, mögen der direkten Rede die nötige Authentizität geben, sonst sind es aber einfach Sprachbrutalitäten.

Der Schatten des Marabouts

Der Fall "Nizon"

Das Journal ist der Versuch, sich entgegen der Infragestellung eine schriftstellerische Existenz zu ermöglichen.

Die Erstausgaben der Gefühle

Similia similibus curantor: ein Roman über den Begründer der Homöopathie

"Du solltest allmählich anfangen, Ordnung in die wachsende Zahl deiner Feinde zu bringen, damit du sie nicht eines schönen Tages miteinander verwechselst!" fordert Henriette Hahnemann ihren Mann auf. Es handelt sich um Christian Friedrich Samuel Hahnemann, auf dessen Schrift "Organon der rationellen Heilkunde" sich die Homöopathie begründet. Feinde dieser Heilmethode gibt es noch immer: Menschen, die sie grundsätzlich ablehnen, sie milde lächelnd abtun oder im schlimmsten Fall mit Scharlatanerie gleichsetzen. Somit kann man die enormen Schwierigkeiten und Anfeindungen gegen Hahnemann, der im 18. Jahrhundert lebte, verstehen. Die Medizin seiner Zeit berief sich noch auf die Körpersäfte, die bei Krankheit in Unordnung geraten waren. Senfpflaster, Schröpfen und Aderlass waren u.a. Mittel der Wahl, das Ungleichgewicht der Säfte zu beseitigen. Noch heute beschränken sich manche Lexika auf den lapidaren Hinweis "Begründer der Homöpathie" unter dem Eintrag Hahnemann, das medizinische Wörterbuch "Pschyrembel" verzichtet gleich ganz auf einen eigenen Eintrag unter Hahnemanns Namen. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt. Hahnemann entwickelte eine Theorie, die auf Paracelcus aufbaute und seine eigenen Beobachtungen an Kranken mit einschloss. Er publizierte dazu und machte sich Feinde, denn Sätze, wie den im Roman zitierten "Eine Menge Ursachen haben seit einigen Jahrhunderten die Würde der praktischen Heilkunde zur elenden Brotklauberei, zur Symptomenübertünchung, zum erniedrigenden Rezepthandel heruntergetrieben" konnten bei Ärztekollegen und Apothekern wahrlich keine Begeisterungsstürme hervorrufen. Hahnemanns Theorie gipfelte in der Aussage "Similia similibus curantur -Ähnliches durch Ähnliches heilen". Dies wurde zum Grundsatz der Homöopathie. Der jetzt erschienene Roman "Die Gewölbe des Doktor Hahnemann" des in Heidelberg geborenen und in Hassloch lebenden Guido Dieckmann zeichnet das Leben des Arztes nach und bearbeitet es fiktional. Was trieb ihn an, was für ein Mensch war er? Das sind die Fragen, denen der Roman Dieckmanns, den manche vielleicht als Autor von "Die Poetin" schon kennengelernt haben, nachgeht. Entstanden ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der schon früh weiß, dass er zur Schule gehen und Medizin studieren will, er aber als Sohn eines Porzellanmalers nicht die Mittel dazu haben wird. Da macht er die Bekanntschaft eines Italieners, der ihm zu der gewünschten Ausbildung verhilft. Hahnemann studiert, wird Arzt und lehnt sehr bald die althergebrachten Heilmethoden ab, die Theoretiker sind ihm ein "schier unentwirrbares Gemisch von Systemen und Behandlungsmethoden". Er wird zum Forscher und Visionär, wobei seine Kompromissbereitschaft, glaubt man dem Roman, nicht gerade groß war. Er begibt sich auf die Suche nach neuen Mitteln, die verträglicher für die Patienten sein sollen. In die Geschichte eingebunden sind die Verfolgungen Hahnemanns durch eine Geheimloge, den Gorgonenorden, die auf verschollen geglaubte Aufzeichnungen des Paracelsus aus sind. Dieser Teil des Romans ist etwas flach, wirkt nicht ganz stimmig, denn die Verfolgungen durch die Loge erscheinen halbherzig, was der Wichtigkeit des bei Hahnemann vermuteten Schriftstückes widerspricht. Zugunsten einer lebendigeren und spannenderen Erzählung war die Geheimloge aber wohl notwendig. Der Hauptton der Erzählung soll auch auf Hahnemanns Entdeckungen liegen, welche im letzten Teil des Buches am überzeugendsten dargestellt werden. Dies gilt auch ür die Beschreibung von Hahnemanns privatem Leben, also seiner familiären Beziehungen. Gegen Ende des Romans wird Hahnemann zu einem Menschen aus Fleisch und Blut. Kann der Roman die Fragen nach seinem Leben und seinen Motiven beantworten? Ja und nein. Ja, nach der Lektüre weiß man etwas mehr über den Menschen Hahnemann, insbesondere seine Kindheit (auch wenn diese dem Nachwort nach mehr fiktionaler Natur ist) und die letzten Jahre vor dem Durchbruch seiner Lehre. "Ihr Mann hat eine Vision, Madame (..) Er sieht Dinge, die vor den Augen anderer unsichtbar bleiben, weil die sie nicht sehen wollen. (...) Aber glauben Sie mir, Madame: Dr. Hahnemanns Experimente mit den Heilpflanzen werden eines Tages die eitlen Professoren zum Verstummen bringen." Der Mann soll Recht behalten. Der Leser erfährt etwas über die Motivation Hahnemanns, wobei die mittleren Jahre in der Darstellung etwas blass geraten sind, die Eindrücke der Lektüre schnell vergangen. Und dies erklärt das "Nein" auf die obige Frage. Es tun sich einige Lücken auf in der biografischen Gestaltung des Romans, die dramaturgisch mit Zeitsprüngen gelöst werden. Manchmal lässt dies den Leser mit unbeantworteten Fragen zurück, die genaugenommen nebensächlich sind, aber dem Leser eines biografischen Romans dennoch durch den Kopf gehen. Es sind Fragen nach persönlichen Dingen im Leben des Hahnemann. Wie war die Reaktion der Eltern auf die Nachricht, dass Fremde ihm den Besuch der Fürstenschule finanzieren werden? Später wiederholt sich das in der Beziehung zu Hahnemanns Frau. Sie lernten sich unter ungewöhnlichen Umständen kennen, nämlich auf der Flucht vor der Gorgonenloge, die beide zwang, das Land zu verlassen. Sie ging einige Jahre als Gouvernante nach England, er nach Wien zur Fortsetzung seiner Studien. Nachdem sie zufällig Jahre später wieder zusammentreffen, bittet Hahnemann sie sofort, seine Frau zu werden, er hatte sie nie vergessen. Doch über die Loge und das Ergehen in der Fremde wird im Gespräch zwischen den beiden kein Wort verloren. Hahnemann will vergessen, doch sie fragt auch nicht. Das sind aber kleinere Mängel. Insgesamt betrachtet, ist der Roman lesenswert, schon allein um einer breiteren Öffentlichkeit die Möglichkeit zu bieten, sich Hahnemann auf unterhaltsame Weise zu nähern. Der Roman endet um 1812/13 mit dem Durchbruch der neuen Lehre, die vom Brockhaus auf das Jahr 1810 datiert wird. Hahnemann starb 1843, er wurde 88 Jahre alt.

Die Gewölbe des Doktor Hahnemann

Mexiko - USA

Nirgends treffen zwei so ungleiche Nachbarn aufeinander wie an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Das Inbild von Macht und Geld grenzt an ein Paradebeispiel der armen Länder. Will ein mexikanischer Staatsbürger mehr als 72 Stunden in den USA verweilen, braucht er die Erlaubnis der US-Einwanderungsbehörde. 1996 wurden 1.6 Millionen Mexikaner ausgewiesen (ein Rekordwert). Von den Dramen, die sich an dieser Grenze abspielen, bekommen wir nur die schlimmsten zu Gehör. Carlos Fuentes, der dort längere Zeit gelebt hat, widmet den vorliegenden Roman den Schicksalen und Ereignissen, die sich rund um den Zusammenprall der beiden Kulturen abspielen. Die neun Erzählungen sind von ganz unterschiedlichem Stil und trotzdem haben sie eine gemeinsame Linie, die mit einer zentralen Person gegeben ist: Leonardo Barroso. Gleich in der ersten Erzählung erhält der Geschäftsmann sein Profil. Er verheiratet seinen unansehnlichen Sohn mit seiner schönen Patentochter, die ihn (nicht etwa den Sohn) anhimmelt und zu seiner Geliebten wird. Barroso scheint über den Dingen zu stehen und so auch über der Grenze. Er hat Macht und Geld, doch der Preis ist die Entwurzelung im eigenen Land. Die Hauptfiguren der einzelnen Erzählungen stehen jeweils in einem entfernten oder nahen Zusammenhang mit Barroso. Ein gemeinsamer Schluss kann gezogen werden: Die Grenze ist nicht wirklich überwindbar. Auch wenn der Schritt in die USA (auf legale oder illegale Weise) geschafft ist, bleibt der Abstand doch zu gross. Die Stärke dieses Buches (die stilistische Vielfalt) hat auch seine Schwächen. Der rote Faden (die Figur Leonardo Barroso) geht zum Teil verloren oder wirkt aufgesetzt, so, dass er auch ohne weiteres hätte weggelassen werden können und es einfach ein Buch mit unterschiedlichen Erzählungen geworden wäre. Aber trotzdem lohnt sich die Lektüre. Einerseits wegen ein paar wirklich gelungenen Geschichten und andererseits wegen dem politischen Gehalt.

Die gläserne Grenze

Meistens kommt es anders, als man denkt

Was ist der Mensch doch bloß für eine Assoziationsmaschine, insbesondere wenn er alleine seine Tage verbringt! Da wird verknüpft und spekuliert ohne Ende. Es genügt ein kleiner Gedanke, ein Bild, ein Wort, der Anblick eines Gegenstandes und die Assoziationen machen sich breit, gehen über in ganze Geschichten, die dann mit Farbe und Leben gefüllt werden müssen. So zumindest geht es dem Ich-Erzähler Raimund Auweiler in H. W. Kettenbachs neuem Roman "Die Konkurrentin". Auweiler, Hausarzt im Ruhestand, die Praxis übernahm Tochter Clara, ist mit der 17 Jahre jüngeren Lene, Lokalpolitikerin, seit nun schon 34 Jahren verheiratet. Neben Clara gibt es noch den Sohn René, beide aus der ersten Ehe und schließlich aus der Verbindung mit Lene die jüngste Tochter Birgit. Lene kam über die Arbeit in Bürgerinitiativen zur Politik und brachte es bis zur Bürgermeisterin. Nun ist sie als Kandidatin für die kommende Oberbürgermeisterwahl im Gespräch. Und mit dieser Nominierung, denn mehr ist es bislang nicht, beginnt sich das Denkkarusell für Raimund zu drehen. Schließlich gibt es einen Mann in Lenes Partei, dem es gar nicht gefallen wird, dass seine eigene Aufstellung als Kandidat gefährdet wird und bestimmt sucht er nach Mitteln und Wegen dies zu verhindern. Auweiler überlegt, ob es in Lenes Vergangenheit etwas gibt, was ihre Nominierung gefährden könnte. Raimund fällt sofort die Fahrerflucht nach einem kleinen Blechschaden auf einem Parkplatz ein. Doch das ist nicht alles; je mehr Auweiler sich in seinen Gedanken verstrickt, desto mehr findet bzw. glaubt er zu finden: Lenes vorbestrafte und alkoholkranke Schwester, vielleicht aber hatte Lene auch Affären, wer weiß das so genau, Gelegenheit hätte sie genügend gehabt. Und was war mit dem Jungen aus Lenes Abiturklasse, der bei einem Ausflug ums Leben kam? Auweiler weiß natürlich überhaupt nichts und alles, was er sich so ausmalt, ist auch nur ausgedacht. Allerdings wird seine Fantasie auch angestachelt, erhält er doch Anrufe mit Bitten um Treffen von Leuten mit denen er seit Jahr und Tag nichts mehr zu tun hatte. Auweiler ist überzeugt, da braut sich etwas zusammen! Auf einer zweiten Ebene erzählt der Roman weniger von der Politik als von Raimunds Einsamkeit in seinem Rentnerdasein, das zwar angefüllt ist mit Literatur, der Beschäftigung mit den Enkeln und den Verpflichtungen als Hausmann, ihm jedoch gleichzeitig viel zu viel Raum zum Denken und Spekulieren lässt, ihn nicht ausfüllt. Für den Leser ist das ganz wunderbar, Raimund jedoch bringt es um den Schlaf. Immerzu muss er sich vorstellen, was geschehen könnte. Einige der Gedankenspiele sind unnötig, wären im Gespräch mit Lene zu klären, doch ist ihm Bange vor dem Ergebnis, dass seine Fantasien Wahrheit werden könnten. Da ist es besser sich weiter zu ängstigen. Die Gedankenspiele des Raimund Auweiler stehen sicherlich auch als Exempel für die Machtspiele der großen Politik und des Menschen an sich. Hier wie dort, ob lokal oder bundespolitisch geht es im Grunde des Politikerherzens um Macht und weniger um Kompetenz. Aber, weiß Auweiler, die Politik wird benötigt und mit ihr die Presse, die bei allzuviel Machtgerangel als Kontrollorgan dienen sollte. Dass dieses System nicht immer so funktioniert wie gedacht, weiß der ehemalige Journalist Kettenbach ebenso wie seine Figur Auweiler. In Auweilers Worten: "Die Politik verdarb den Charakter, natürlich, aber es gab offensichtlich Fälle, in denen man Politiker brauchte und sogar willkommen hieß, weil sie das zu erledigen vermochten, was einem selbst lästig war oder zu mühsam, mit zuviel Verantwortung beladen oder hin und wieder, so war jedenfalls anzunehmen, auch zu schmutzig. Natürlich konnte man die Politiker bei solchen Geschäften nicht sich selbst überlassen, aber das tat man ja auch nicht, denn schließlich gab es die Presse, die dafür bezahlt wurde, daß sie den Politikern auf die Finger sah, und so sollte eigentlich auch nach meinem Geschmack alles vorzüglich geregelt sein. War es aber nicht." Und doch ist der Roman keine Kritik an den Zuständen, er ist eher eine Bestandsaufnahme, und dies auf äußerst witzige und humorvolle Art. Dazu gehören nicht zuletzt die Treffen mit seinem kleinen Enkel Daniel, Auweilers Beschreibungen und Eindrücke der eigenen Kinder, seine Reflektionen über das Altern und seine Ehe mit Lene. In den beiden letzteren Gedankengängen liegt schließlich auch ein Großteil der Probleme Auweilers begraben, denn er hat zuviel Zeit, fühlt sich nicht mehr ernstgenommen. Ist das Buch als Darstellung einer bundesrepublikanischen Realität zu lesen? Ich denke, dies wäre überanalysiert. Es ist ein Text über Raimund Auweiler, der in dieser Gesellschaft lebt, sie beobachtet und mit früheren Jahren vergleichen kann, und nur insofern ist der Roman ein Text über die hiesige gesellschaftliche Realität. Auweilers Probleme sind nicht spezifisch deutsch. Machthunger, Intrigen, Einsamkeit findet man auch anderswo. Mit Raffinement, denn es gehört einiges dazu, einen Leser in einem handlungsarmen Roman bei der Stange zu halten, führt Kettenbach diesen an der Nase herum, macht ihn zum Kollaborateur Auweilers, denn unwillkürlich beginnt man des Arztes Fantasien beim Lesen weiterzuspinnen und fragt sich nach der Lektüre, ob da nicht noch mehr war. Raimund Auweiler läuft Gefahr sich um Kopf und Kragen zu denken. Zum Glück läuft die Lawine, die er begann loszutreten, ins Leere. Es kommt nämlich meistens anders, als man denkt.

Die Konkurrentin

Verpasste Gelegenheiten

Was schreibt man über einen Roman, der einen zu Tränen gerührt hat? Vielleicht beginnt man mit dem Versuch, die Handlung zu beschreiben. Im Falle von "Die Unbehüteten" kann dies nur grob geschehen, da die Ungarin Agnes Gergely in ihrem Roman die Betonung auf das innere Erleben der Protagonisten legt und die Sätze, welche den Fortgang der Handlung an sich beschreiben, auf ein Minimum beschränkt sind. Die Handlungszeit dieses 192 Seiten Romans zieht sich über mehrere Jahre hinweg. Karen, Übersetzerin und Schriftstellerin aus Budapest wird mit 40 Jahren Mutter. Drei Jahre später verliert sie ihren sieben Jahre älteren Mann Zoltán, und sieht sich ganz plötzlich durch den Unfalltod ihres Cousins und seiner Frau mit der Verantwortung für ein weiteres Kind, Detti, zwei Jahre älter als ihre Tochter Daniela, konfrontiert. Beide Kinder sind ungewöhnlich talentiert, Daniela schreibt Gedichte, Detti musiziert. Auf einer Reise nach Skandinavien lernt Karen den ebenfalls verwitweten Carlos kennen, er ist in der Filmbranche tätig. Sie fühlen sich zueinander hingezogen, Carlos besucht sie in Ungarn. Eine Heirat wird geplant, doch plötzlich darf Carlos aus politischen Gründen nicht mehr einreisen. Karen bekommt nur alle paar Jahre eine Erlaubnis zur Ausreise, die auch jedesmal mit einem Forschungsvorhaben begründet werden muss. Das große Thema dieses in Ungarn im Jahre 2000 erschienenen Romans, ist die Macht der Vergangenheit in der Gegenwart. Es geht darum, diese Macht zu überwinden, ohne zu vergessen und der Zukunft eine Chance zu geben. Die erwachsenen Protagonisten in "Die Unbehüteten" haben alle ihre persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen mit dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg. Carlos ist dänisch-deutscher Abstammung, mit dänischer Hilfe gelang es der Familie nach Südamerika zu flüchten und "aus Carl-Gustav wurde Carlos". Karen verdankt den Dänen die Rettung ihres Lebens. Carlos war im Lager Sachsenhausen, der Vetter Karens Antal in Birkenau. Die Männer haben gegensätzliche Strategien mit diesen Erfahrungen umzugehen. Antal vermeidet alles, was ihn an die Zeit erinnert, läßt die Vergangenheit nicht in die Gegenwart dringen. Zumindest glaubt er das. Der Unfall, bei dem er ums Leben kommt, läßt allerdings zweifeln, ob Antal mit seiner Strategie Erfolg hatte. Carlos dagegen will alles wissen, er nutzt seinen Beruf, die Geschehnisse von Besatzung und Widerstand nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und aufzuarbeiten. In diesem Sinn hat Zeit hat für ihn keine Bedeutung. Bei Karen und den Mädchen will er seinen Durst nach Familie, Leben und Liebe löschen, doch auch Verantwortung übernehmen, die Mädchen und Karen behüten. Was aber ist es, das zu Tränen rührt? "Die Unbehüteten" ist nicht nur ein Text über die Vergangenheit, sondern auch über verpasste Gelegenheiten, über Hoffnungen und Sehnsüchte, die Liebe und den Tod. Karens Leben ist von unsäglichen Verlusten und unerfüllten Hoffnungen geprägt. Sie ist nicht "zum Weglaufen geboren", sie kehrt von den Auslandsreisen immer wieder nach Ungarn zurück, selbst dann, als sie gemeinsam mit den beiden Mädchen nach Skandinavien reist. Sie denkt nicht einmal daran, dass sie Carlos oder ihren schwedischen Verlag bitten könnte, ihr behilflich zu sein, außerhalb Ungarns ein neues Leben zu beginnen. Der Tod ist ihr ein allgegenwärtiger Begleiter, und es geht dabei nicht nur um die Toten der Vergangenheit. Sie muss so viele geliebte Menschen in so kurzen Zeitabständen verlieren, dass man sich fragt, wie kann sie das nur aushalten, wie kann das überhaupt jemand aushalten? Wahrscheinlich nur, weil der Tod nicht als Endpunkt verstanden wird, denn "Du wirst sehen, sie kommen alle zurück. Gib nur Acht. Verpaß den Augenblick nicht wieder." Mit dieser Aufforderung des Steuermannes, der den Roman einrahmt, denn er spricht auf der ersten und der letzten Seite zu Karen, und gibt sich damit als Steuermann ihres Lebens zu erkennen, werden wir aus dem Text entlassen. Es bleibt die Erkenntnis, dass nichts wichtiger ist, als aufzupassen, den Augenblick zu erkennen und zu nutzen. Wie hieß es in der Antike? "Carpe diem".

Die Unbehüteten

Katatonie

Der New Yorker Peter Moore Smith macht uns in seinem Debütroman mit den Untiefen des menschlichen Gehirns und der Psyche bekannt. "Die vergessene Zeit" erzählt die Geschichte zweier sich ungleicher Brüder und ihrer Familie, den Airies. Einst bestand diese aus den Eltern und drei Kindern, bis die kleine Tochter Fiona eines Abends spurlos verschwand und ihr Schicksal nie aufgeklärt werden konnte. In der Folge trennten sich die Eltern. Der ältere Bruder Eric entwickelte einen extremen Ehrgeiz und wurde Gehirnchirurg. Seinem Bruder Pilot dagegen gelang es nicht, Fuß zu fassen. Die Handlung setzt 20 Jahre nach dem Verschwinden Fionas ein. Pilot kommt mit seinem Leben nicht mehr klar, Eric holt ihn nach Hause. Die Mutter leidet an einer unerklärlichen Sehschwäche, sie nennt es "Gespenster sehen". Eines Tages, Pilot ist auf dem Weg die Mutter abzuholen, kommt er nicht am Ziel an. Drei Tage später wird er im Wald, der an das Grundstück der Airies grenzt, aufgefunden. Er hat einen psychotischen Schub erlitten und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Die Diagnose lautet zunächst Schizophrenie. Doch zweifelt die Therapeutin Katherine, ob Pilot wirklich schizophren ist und beschäftigt sich deshalb mit dem Geschehen um Fionas Verschwinden. Sie beginnt nachzuforschen. 20 Jahre lang Katatonie, 20 Jahre lang Stillhalten der Beteiligten, 20 Jahre lang Verdrängungsmechanismen, und dann das Bewusstwerden der Erinnerung, so könnte man den Roman auch beschreiben. Der Originaltitel ist "Raveling", was so viel heißen kann wie "verwirrend". Verwirrend sind die Fallstricke unseres Gehirns und die Täuschungen, denen Erinnerungen erliegen können bzw. die Unsicherheiten an einer Erinnerung. Die Protagonisten sind verwirrt, nicht unbedingt in einem krankhaften Sinn. Doch verwirrt, weil plötzlich Gedanken und Gefühle auftauchen, vor denen sie immer geflüchtet waren. Es ist, als hätte Fiona beschlossen, dass 20 Jahre Geheimnis genug sind, und die Wahrheit nun ans Licht muss. Es ist natürlich nicht Fiona, sondern Pilot, der die Dinge in Gang bringt. Sein Unterbewusstsein und seine Therapeutin ermuntern ihn, die erlebte Wahrheit ans Licht kommen zu lassen, das Knäuel von Gefühl und Erinnerung, von Täuschung und Realität zu entwirren. Ungewöhnlich ist die Erzähltechnik von Smith. Der Roman ist aus der Sicht Pilots erzählt, doch in verblüffender Weise besteht die Erzählhaltung sowohl aus der ersten und der dritten Person und trägt erheblich dazu bei, die Motivation des Buches zu beschreiben und real zu machen. Der Leser ist zunächst irritiert, erkennt jedoch sehr schnell, dass das Buch und der Spannungsverlauf von diesem stilistischen Mittel lebt und profitiert. Zudem gelingt es Smith einen Begriff darüber zu vermitteln, wie man sich wohl unter dem Einfluss von Psychopharmaka fühlt. Dieser psychologische Roman entwickelt auf den letzten 100-150 Seiten die meiste Spannung, zuvor glaubte der Leser sich ein Bild machen zu können, die Geschehnisse einordnen zu können. Doch dann kommt plötzlich Unsicherheit auf, denn immer dann, wenn man glaubt, die Lösung zu kennen, wird sie wieder in Frage gestellt.

Die vergessene Zeit

Bellis Rückblick auf ihren aktiven Kampf für die Revolution in Nicaragua

Gioconda Belli wurde 1958 in Managua als Tochter einer Familie aus der Oberschicht Nicaraguas geboren, heiratete mit 18 standesgemäss und gebar ein Jahr später ihre erste Tochter. Anders als man es bei einer Literatur-Nobelpreis-Trägerin erwarten würde, war Belli in ihren jungen Jahren zwar eine begeisterte Leserin aber schriftstellerisch noch nicht sehr aktiv - abgesehen von ein paar Gedichten. Die Schriftstellerei sollte erst einige Jahre später zum Mittelpunkt ihrer Tätigkeit werden. Vorerst war es die Politik, die sie am meisten interessierte: Belli beteiligte sich ab 1970 am Widerstand der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN gegen die Somoza-Diktatur. Also nicht gerade das, was einer Frau aus der Oberschicht geziemt. Wenn man nicht wüsste, dass das Geschriebene die Erinnerungen Gioconda Bellis sind, könnte man meinen, einen seichten Thriller zu lesen. Ein bisschen Liebe, Sex und Tod und eine Portion Gewalt. Intrigen, Verschwörungen und erschütternde Schicksale, also alles, was einen seichten Thriller ausmacht. Doch das Ganze beruht auf Erlebtem. Stellenweise sind es die gar schwülstigen Worte Bellis, die die Seichtheit unterstützen: "Ich weiss nicht, ob ich es brauchte, zu leiden - mehr als einmal im Leben habe ich mir das Glück durch die Finger schlüpfen lassen -, doch brandete das Bild von Marcos, riesig und idealisiert, an den Strand meiner Seele und riss Schiffe, Brücken, ganze Dörfer mit sich fort." Nicht alles ist in diesem melodramatischen Stil geschrieben. Belli kann auch im nüchternen Erzählstil berichten. Fesselnde Lektüre ist es aber nicht. Es ist vielmehr der Inhalt, der dieses Buch interessant macht: Ein durchaus kritischer - nicht idealisierender - Rückblick auf den Sandinistischen Widerstand in Nicaragua, gespickt mit sehr Persönlichem von Gioconda Belli.

Die Verteidigung des Glücks

Vom Schicksal geläutert

Patrick Wallingford wurde als Sonderkorrespondent nach Indien geschickt, um über den Sturz einer Trapezkünstlerin eines indischen Zirkus' zu berichten, die ihren Ehemann, der auch ihr Trainer war, erschlagen hatte, als dieser sie zu retten versuchte. Sie überlebte und für Wallingfords Nachrichtensender war das eine Reise wert. Doch es sollte nicht bei dieser Sensation bleiben. Millionen Fernsehzuschauer durften zusehen, wie sich die Zirkuslöwen mit dem halben linken Arm des Journalisten verköstigten. Wallingford war dem Käfig zu nahe gekommen, weil er effektvolles Löwengebrüll in seine Reportage hatte einbauen wollen. Von nun an war der Journalist weltbekannt und hiess jetzt überall der Löwenmann. Einige Zeit später bot ihm eine Frau die Hand ihres kürzlich verstorbenen Ehemanns. Diese Idee kam Mrs. Clausens übrigens nicht erst als ihr Mann gestorben war. Als Gegenleistung musste Wallingford ein Kind mit ihr machen und ihr Besuchsrecht bei der Hand gewähren. Das fiel Wallingford nicht schwer, denn er hatte sich in Mrs. Clausens verliebt und wollte ihr Ehemann und ganz Vater werden. Dem widerspricht aber seine bisherige Lebensweise... Irving hat einen stellenweise amüsant zu lesenden Roman geschrieben. Allerdings bleibt die Charakterisierung der Hauptfigur merkwürdig oberflächlich und die Geschichte wird dadurch langatmig. Zweifelsohne eine Stärke ist die Einführung neuer Figuren, so beispielweise die des grotesken Handchirurgen Dr. Zajac.

Die vierte Hand