Beleidigung als Kunstform
Der holländische Filmemacher und Sprücheklopfer Theo van Gogh, erstochen von Mohamed Boujeri, einem marokkanischen Mörder, betrachtet vom Himmel aus eine Gedenkversammlung zu seinen Ehren: "... der Platz war voller Kleingeister. Eine Farce. Was hatte er mit freier Meinungsäusserung zu tun? Wie sie da alle rumstanden und heilig taten. Theo hatte nichts mit freier Meinungsäusserung am Hut gehabt. Er log, manipulierte, ätzte, beleidigte, pöbelte, schimpfte, betrog, verriet - und es tat ihm gut. Sein Widerwille gegen alles Mittelmässige war so gross, dass er es als seine Pflicht empfand, die Beleidigung zur Kunstform zu erheben. Er wollte sich abreagieren. Zetern. Fluchen ...". Im Himmel kriegt er die Option aus drei Personen auf der Erde eine auszuwählen, mit der er kommunizieren will. Ayaan Hirsi Ali, Leon de Winter, Mohamed Boujeri. Er lehnt alle drei ab. Und so wird ihm von seinem Betreuer, dem ehemaligen Franziskaner Pater Jimmy ("... es quälte ihn, dass er für seine Berufung zu geil war"), Max Kohn, ein dubioser jüdischer Geschäftsmann und Drogendealer, der nach einer schweren Operation Jimmys Herz trägt, zugewiesen. Und dann taucht Sonja, eine niederländische Ärztin, auf, die sowohl mit Jimmy als auch mit Max Kohn ... So beginnt dieses ziemlich irrwitzige Buch.
In der Folge lernt Sonja dann den Schriftsteller Leon de Winter kennen, der kurz zuvor von seiner Frau Jessica Durlacher für einen reichen Architekten im kalifornischen Venice Beach verlassen worden war. Ist das jetzt real oder Fiktion? Wurde Leon de Winter wirklich von seiner Frau verlassen? Spielt es eine Rolle? Muss ich es wissen? Nein, muss ich nicht und überhaupt: wer kann denn schon so genau sagen, was real und was Fiktion ist? Die Übergänge sind bekanntlich fliessend.
Übrigens: So beschreibt de Winter sich selber: "De Winter hatte sanfte, irgendwie Unschuld ausstrahlende Augen - faszinierend, dass sich dahinter, wie seine Bücher bewiesen, eine kuriose Phantasie verbarg. Und mit welchem jugendlichen Feuer er über Politik und Film redete ...".
In diesem Roman hängt alles zusammen, haben alle irgendwie mit allen zu tun. Max Kohn mit Sonjas Vater, Salhedine Quaziz (Sallie), der selbsternannte Kapitän der marokkanischen Fussballmannschaft, die Amsterdam mit Terrorattacken in Atem hält, mit Max Kohn (für den Sallies Vater gearbeitet hatte), Leon de Winter mit Sonjas Fast-Ehemann David de Vries und mit Theo van Gogh ...Besonders reizvoll ist die Auseinandersetzung de Winters mit van Gogh, denn die beiden, um es milde zu sagen, mochten sich nicht.
In der Stopera, dem Opernhaus, kommt es zu einer Gasexplosion, am Flughafen Schiphol wird ein Flugzeug gekapert, Ereignisse, die dem Autor (in Gestalt von Max Kohn) Gelegenheit geben, sich Gedanken über Islam und Terror zu machen: "Offenbar weckte diese Glaubenstradition Erwartungen, die, wenn sie nicht eingelöst wurden, Wut und Gewalt schürten, wie jetzt im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert geschehen. Die englischsprachigen Länder hatten die Macht in der Welt, nicht die arabischsprachigen. Kulturen, Menschenbilder, Identitäten kollidierten, und die Mohammedaner setzten alles in Bewegung, um die Macht des englischsprachigen Teils der Menschheit zu brechen. Mit Gewalt, Quertreiberei, Propaganda. Doch alles, was das einundzwanzigste Jahrhundert charakterisierte - insbesondere die Geschwindigkeit - , war geprägt vom Geist des Englischsprachigen. Die Mohammedaner konnten zerstören, soviel sie wollten, triumphieren würden sie nur, wenn sie in der Lage waren, den Geist und die Kreativität des Englischsprachigen mit ihrer eigenen mohammedanischen Antwort zu überbieten. Das war so offenkundig, dass Kohn sich seit Jahren über das Fehlen bahnbrechender Wissenschaftszentren in der mohammedanischen Welt wunderte. Auf diesem Gebiet mussten die Mohammedaner konkurrenzfähig werden, wenn sie ihre Ansprüche verwirklichen wollten. Aber das geschah nicht. Sie sprengten lieber Gebäude, darunter auch Moscheen, in die Luft, und sich selbst dazu."
Das gekaperte Flugzeug mit dem freigepressten Mohamed Boujeri an Bord hebt ab in Richtung Zentralasien, Nathans (der Sohn von Sonja und Max Kohn) Schule wird besetzt, dann dreht Flugzeug über München ab und kehrt in den niederländischen Luftraum zurück, die Entführer wollen die Schulkinder gegen Geert Wilders austauschen ... für Abwechslung ist wahrlich gesorgt in diesem tollen Buch.
"Ein gutes Herz" ist ein praller, fantastischer, lustvoller Roman. Spannend erzählt und dabei voll von unaufdringlich eingestreuter Zeitkritik: "In dem schlauchförmigen kleinen Lokal wurden den Bankangestellten, Headhuntern und Rechtsanwälten aus den benachbarten Grachtenbüros zwanzigerlei Kaffee und fünfzigerlei belegte Brötchen geboten." "Die Welt bestand aus einer beängstigenden Verknäuelung der Ambitionen rücksichtsloser Männer." "Noch eine Etage tiefer befanden sich Schutzräume, in denen man sogar einen atomaren Angriff überleben konnte. Cohen war schleierhaft, wer so etwas überhaupt überleben wollte."
Leon de Winter zu lesen bedeutet, sich mitten im vollen Leben wiederzufinden: so intensiv und anregend, so sinnenfreudig und besessen wünschte man sich auch das wirkliche Leben.
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Das Buch ist nicht nur sprachlich und stilistisch kaum zu ertragen, sondern auch inhaltlich.
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