Aus der europäischen in die osmanische Kultur
Mit "Kurt Ali" legt der in der Schweiz lebende Abdullah Dur sein erstes Werk vor, einen Roman, der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz, Frankreich und der Türkei spielt.
Ueli Kurt ist ein junger, begabter Zimmermann aus dem Dorf Urnäsch im Kanton Appenzell. Das Handwerk und die Liebe zum Detail lernt er von seinem Großvater, der auch seine wichtigste Bezugsperson ist. Die neue Kirchentür mit prunkvollen Schnitzereien macht Ueli weit über sein Dorf hinaus bekannt. Im Gegensatz zum Großvater, der Uelis Talent erkennt und fördert, steht der Vater dessen Passion für die aufwändige Dekoration von Schränken und Truhen, denen er sich neben der Zimmermannsarbeit in den Wintermonaten widmet, verständnislos gegenüber. Das Verhältnis zum Vater gestaltet sich auch wegen dessen autoritärer Art schwierig. Die Mutter liebt den Sohn, doch kann sie sich gegen den herrischen Vater nicht durchsetzen. Im Roman bleibt ihre Gestalt blass. Ihre hervorstechendste Eigenschaft ist ihr Stottern, das die Verständigung schwierig gestaltet und ihre Position in der Familie zusätzlich schwächt. Uelis bester Freund ist sein Tagebuch, dem er jede freie Minute widmet und dem er sich anvertraut.
Bestimmend für Uelis weiteres Leben ist die viel zu frühe Heirat. Der Vater zwingt ihn in die Ehe mit seiner Cousine, einem gleichaltrigen Mädchen, das Ueli nicht liebt. Als das jungverheiratete Paar allein auf der Alp alles Vieh der Familie an ein Rudel Wölfe verliert, büßt Ueli den letzten Rest an Achtung ein, die der Vater noch für ihn übrig hatte, denn die ganze Familie hat durch die Unachtsamkeit der beiden Jungen ihr einziges Vermögen eingebüßt und wurde in tiefe Armut gestürzt. Bald schon wird Ueli ein behindertes Kind geboren. Die Arztkosten kann die arme Familie kaum schultern. Die materielle Not wird immer drückender.
Während Urnäsch vom Übergang in die Moderne noch nichts spürt, sorgt der beginnende Tourismus in Appenzell für erste Umwälzungen. Der Export von Käse läuft an. Ein erfolgreicher Käsehändler knüpft Kontakte ins Ausland und beginnt sogar mit der Vermittlung von Arbeitskräften. Als qualifizierte Handwerker für Arbeiten an einem bedeutenden Loire-Schloss gesucht werden, entschließt sich Ueli, nach Frankreich zu gehen. Diese Entscheidung befreit ihn nicht nur aus der Not, sondern auch aus der unglücklichen Ehe. Seine Frau bleibt mit dem Töchterchen in Urnäsch zurück, begrüßt aber Uelis Entscheidung. Auch für sie ist sein Weggang ein Ausweg aus der tristen Lebenssituation. Wenig später erreicht Ueli die Nachricht vom Tod seiner kleinen Tochter. Den Schock hat er noch nicht verwunden, da erfährt er, dass seine Frau ein Verhältnis mit dem Pastor hat, aus dem ein Kind hervorgegangen ist. Einer der anderen Schweizer "Gastarbeiter" an der Loire zieht Ueli ständig deswegen auf. Ueli fühlt sich aus der Gruppe der Handwerker ausgeschlossen und isoliert. Im Zorn schlägt er seinem Peiniger eine Latte gegen den Kopf. In der Überzeugung, den Kollegen umgebracht zu haben, flieht er Hals über Kopf aus dem Schloss und tritt eine abenteuerliche Reise durch Frankreich an. Schließlich erreicht er Marseille, die Stadt, von der sein französischer Meister immer geschwärmt hatte. Hier heuert er auf einem deutschen Handelsschiff an. Ueli tritt eine Reise über Italien nach Russland an. Dort nimmt der Kapitän zu viel Ladung an Bord, was für Unruhe unter der Besatzung sorgt. Auf der Rückfahrt kommt es im Schwarzen Meer obendrein zu einem Maschinenschaden. Als auch noch ein fürchterliches Unwetter das Schiff allein mit der Kraft seiner Segel schwer manövrierbar macht, versucht der Kapitän als letzten Ausweg, einen türkischen Schwarzmeerhafen anzulaufen. Doch das Schiff sinkt kurz vor der Küste.
In Tirebolu, einer Kleinstadt an der anatolischen Schwarzmeerküste in der Nähe Trabzons, wird Ueli Kurt als einziger Überlebender des Schiffsunglücks von einem wohlhabenden Pascha, einem osmanischen Offizier, am Ufer gefunden, in sein Haus aufgenommen, gesund gepflegt und schließlich von allen als Familienmitglied akzeptiert. Der Pascha reitet jeden Morgen in der vagen Hoffnung ans Meer, dort seinen Sohn bzw. dessen angespülten Leichnam zu finden. Der Sohn musste im Schwarzen Meer auf einem osmanischen Kriegsschiff sein Leben lassen. Der Pascha sieht nun in Ueli den verlorenen Sohn. Dessen Vorname wird von den Menschen vom unverständlichen Ueli ins ihnen bekannte Ali abgewandelt. Der Familienname Kurt kann bleiben, denn das Wort bedeutet auf Türkisch "Wolf". Der Pascha richtet in seinem Anwesen für Ali Kurt eine Schreinerwerkstatt ein, und aufgrund seines Geschicks und des Mangels an qualifizierten Handwerkern kann Ueli sich bald vor Aufträgen kaum mehr retten.
Dieser Teil des Romans, der im Anatolien zur Zeit des Osmanischen Reichs spielt, ist der wohl eindrücklichste des Buchs. Dem seit langen Jahren in der Schweiz lebenden Autor gelingt es, die Unterschiede in Mentalität, Denken und Alltagsleben von Türken und Europäern anschaulich herauszuarbeiten. Anhand vieler Details zeigt er Uelis allmähliche Anpassung an sein neues Lebensumfeld und sein zunehmendes Verständnis für die osmanische Kultur. Auch der Leser erfährt dadurch viel über Sitten und Bräuche und über die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Milieus, die ähnlich auch in der heutigen Türkei noch existieren. Daneben spart der Autor nicht mit beißender Kritik am Osmanischen Reich, das in seiner späten Phase der Bevölkerung kaum mehr tragbare Steuern und Opfer auferlegte, dank derer der Sultan seine sinnlosen Kriege um nicht länger zu haltende Territorien führen konnte.
Im letzten Abschnitt des Buchs fühlt man sich in ein Märchen aus 1001 Nacht versetzt. In der Liebesgeschichte zwischen dem Urnäscher Zimmermann Ueli und der Tochter des Paschas vom Schwarzen Meer lässt Abdullah Dur zwei Liebende wider jede Erwartung und zu deren eigener Überraschung zueinander finden. Der Pascha, der seine Tochter zunächst gegen ihren Wunsch mit einem viel älteren Diplomaten verheiratet hatte, erkennt nach dem Tod seines Sohns seinen Fehler und wandelt sich zu einem aufgeschlossenen, toleranten, aufgeklärt denkenden Menschen. Nach dem Tod des Schwiegersohns beschließt er, sich nicht noch einmal in das Leben seiner Tochter einzumischen, sondern fortan ihre Gefühle zu respektieren. Als die Familie des Diplomaten die schöne junge Frau für sich reklamiert und sie mit dem älteren Bruder ihres verstorbenen Ehemanns verheiraten will, versteckt der Pascha das Liebespaar in einem Bergdorf. Des Risikos ist er sich bewusst. Aus Rache wird er von den Brüdern seines verstorbenen Schwiegersohns ermordet.
Pascha Ali Kurt muss nun in die Fußstapfen seines Schwiegervaters treten und dessen verantwortungsvolle Aufgabe als Familienoberhaupt und einer der bedeutendsten Honoratioren der Kleinstadt übernehmen und ausfüllen, was er auch tut, wenn auch mit weniger Passion als seine frühere Schreinertätigkeit. Ali Kurt hat mit seiner Frau zahlreiche Kinder und wird so zum Oberhaupt eine großen Sippe.
Jahrzehnte später macht sich einer der Enkel Uelis, ein Keksfabrikant mit einer offenbar ererbten Leidenschaft fürs Bergsteigen, auf Spurensuche, reist sogar in die Schweiz und findet in Urnäsch das Tagebuch seines verstorbenen Großvaters. Als Leser hätte man sich gewünscht, mehr über das Verhältnis von Großvater Ueli zu seinem Enkel zu erfahren, der offenbar nichts über dessen Schweizer Abstammung wusste. Das Tagebuch wird übersetzt, was wegen der inzwischen veralteten Sprache mit Schweizer Ausdrücken eine schwere Aufgabe für den türkischen Übersetzer darstellt.
Die Stärke des Romans liegt in der Schilderung, wie Ueli Kurt sich an verschiedene Milieus und Kulturen anpasst und in ein neues Lebensumfeld einfügt. Die Handlung ist spannend, wenn auch einfach geradlinig und in einem einzigen Strang erzählt. Man merkt, wie der Autor parallel zum Voranschreiten der Handlung auch sein schriftstellerisches Talent entwickelt, so dass man davon ausgehen kann, dass dies nicht sein letzter Roman bleiben wird.
Im Februar 2019 erscheint der Roman unter dem Titel "Der Pascha aus Urnäsch" auf deutsch beim Verlagshaus Schwellbrunn.
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