Mit Kooperation lebt es sich leichter
Volker Arzt, geboren 1941, Diplomphysiker, Wissenschaftsjournalist und Autor, setzt sich in diesem schön gestalteten und exquisit illustrierten Buch mit grundsätzlichen Fragen auseinander. Ist die Natur so gnadenlos und unbarmherzig als wie sie gemeinhin gilt? Auf den ersten Blick schon, doch wie bei jeder Unterteilung in Schwarz und Weiss gilt sich vor Augen zu führen, dass dazwischen ganz viele Abstufungen von Grau liegen.
Es versteht sich, es gibt unzählige Beispiele, die bestätigen, dass in der Natur rücksichtslos der eigene Vorteil gesucht wird. "Das Zusammenleben der Tiere scheint geprägt von Eigennutz, Aggression und Futterneid. Welche Amsel würde ihrer Nachbarin einen Regenwurm anbieten – und sei diese noch so hungrig? Welche Robbenmutter würde ein fremdes Waisenbaby säugen – da kann es noch so jämmerlich weinen; es wird mitleidslos weggebissen." Nur eben, es gibt auch ganz andere Beispiele. Etwa die Vogeleltern, die bis zur Erschöpfung Käfer und Insekten jagen, um ihre Jungen satt zu kriegen. Oder die Katzenmütter, die ihre Jungen säubern; die Elefanten, die ihren Babys auf die Beine helfen; oder die Delfine, die ihre Neugeborenen für den ersten Atemzug an die Wasseroberfläche tragen. Sind das alles Ausnahmen?
Egoismus und Altruismus finden sich beim Menschen neben- oder hintereinander. Wieso also sollte das bei Tieren nicht auch der Fall sein? Und schon sind wir bei Charles Darwins "Theorie der natürlichen Zuchtwahl", wie er selbst seine Evolutionstheorie nannte. "Die Natur betreibt einen fortlaufenden Züchtungsprozess, der jede Eigenschaft begünstigt, die direkt oder indirekt zu einer verstärkten Fortpflanzung führt – zu einer erhöhten 'Fitness', wie die Biologen sagen." Aufschluss darüber geben uns eine Fülle von Fossilien. Dass es diese überhaupt gibt – Volker Arzt nennt sie "Flaschenpostsendungen aus unvorstellbar weit zurückliegenden Zeiten", grenzt an ein Wunder, denn "dafür muss ein verendetes Tier noch vor seiner Zersetzung in Sand oder Sedimente eingebettet und konserviert werden." Und das wird wohl eher selten vorgekommen sein.
Der russische Anarchist Pjotr Kropotkin behauptete in seinem 1902 in England erschienenen 'Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt': "Geselligkeit ist ebenso ein Naturgesetz wie gegenseitiger Kampf." Nur eben: Wer hört schon auf einen Anarchisten? Der Zeitgeist hatte anderes im Sinn und zog den Kampf der Kooperation vor. Und Volker Arzt hält fest: "Es ist sicher kein Zufall, dass Darwins Fokussierung auf Kampf und Konkurrenz von seinen Zeitgenossen so bereitwillig aufgenommen wurde. Das England des 19. Jahrhunderts war geprägt von der industriellen Revolution und ihren katastrophalen Auswirkungen (...) Auch wenn das verkürzt und vereinfacht dargestellt sein mag, die frühkapitalistischen Praktiken fügten sich nur zu gut ins Bild von Darwins Kampf ums Überleben." Es gehört zu den Vorteilen dieses Buches, dass es Zusammenhänge aufzeigt, die vielen entgehen.
Die Beispiele für ein kooperatives Miteinander, die der Autor anführt, sind mannigfaltig, verblüffend und faszinierend. Das Nilkrokodil, das sich von einem Vogel die Zähne reinigen lässt. Der alte Schimpanse, der ein Waisenkind adoptiert. Ja, sogar artübergreifendes Mitgefühl lässt sich beobachten. "Da ist ein Antilopenkitz in die Fänge eines Leoparden geraten. Jeder erwartet den tödlichen Biss, als ein Trupp von Pavianen heranstürmt. In Überzahl rücken sie ihrem Erzfeind auf den Leib, bis er sein Opfer freigibt und das Weite sucht. Man möchte Beifall klatschen." So isses!
Ich staune über die vielfältigen Kooperationen von Tieren und Pflanzen – und von Bakterien, den Verdauungshelfern, dich sich fast alle im Darm befinden und unser Wohlbefinden beeinflussen, wie man aus Forschungen über die sogenannte Darm-Hirn-Achse, den Nervus vagus, schliessen muss. So zeigten etwa ein Mikroben-Tausch bei Mäusen verblüffende Resultate. 'Gesundmacher'-Bakterien gibt es jedoch nicht. "Es scheint vielmehr – wie bei einem Orchester – auf die Gesamtbsetzung und das gute Zusammenspiel anzukommen. Je bunter das Mikrobiom-Orchester, je mehr Bakterienarten es vereint, umso positiver seine Wirkung."
Was Volker Arzt mit diesem gut geschriebenen und witzigen Buch deutlich macht, ist, dass Leben und Natur wesentlich komplexer sind, als sich das unser Entweder/Oder-Denken vorstellen will. Anders gesagt: der erbitterte Kampf um den eigenen Vorteil und das partnerschaftliche Miteinander schliessen sich nicht aus, sondern existieren bequem nebeneinander. Ja, den Egoismus der Gene, den gibt es, doch es gibt auch das Mitgefühl und die Kooperation. Wer ausschliesslich in Kategorien des Eigennutzes argumentiert, sagt mehr über sein beschränktes Denken als über die Welt aus.
Fazit: Ein höchst anregendes und überzeugendes Plädoyer gegen ideologische Voreingenommenheiten und fürs genaue Hinschauen!
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