Am Rande der Gesellschaft - von Bettlern und Räubern
Der vorliegende Band sammelt die Beiträge einer Vortragsreihe, die 2003 parallel zur Präsentation der Wanderausstellung "Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel 1500-2000" der Länder Rheinland-Pfalz und Saarland in Mainz geplant war. Letzteres hat sich zwar nicht realisieren lassen, die jetzt publizierten Vorträge geben aber einen guten und kompetenten Einblick in aktuelle Schwerpunkte der historischen Kriminalitätsforschung, die sich in den letzten Jahren sehr dynamisch entwickelt hat.
Den Anfang macht Gerd Schwerhoff, Professor in Dresden und der prominenteste Vertreter der jungen Forschungszunft, der das Räuberleben um 1500 schildert. Der populären Dichtung (Robin Hood) stellt er die Realität gegenüber: Er beschreibt die historischen Rahmenbedingungen, die Methoden und die Organisationsformen der Räuberei. Dabei geht er sowohl auf den fehdeführenden "Raubritter" als auch auf die Räuber aus einfachen Verhältnissen ein, die die Mehrheit bildeten. Schwerhoff verweist auf die verschiedenen Aktionsräume und den Weg vom Diebstahl zum professionellen Gaunertum. Für die Verfolgungsbehörden konstatiert er Ineffektivität als Charakteristikum, während das Strafverfahren sich gleichzeitig zum Inquisitionsprozess entwickelte, in dem die Folter ein legitimer Bestandteil war. Schließlich stellt er die Bildung einer Subkultur der Kriminellen fest - Stichwort Rotwelsch. Schwerhoff warnt davor, die Lebenswirklichkeit der Räuber zu idealisieren, aber auch sie allzu sehr zu dramatisieren.
Ernst Schubert zeichnet die Entwicklung von der Duldung über die Diskriminierung zur Verfolgung von gesellschaftlichen Randgruppen im ausgehenden Mittelalter nach. Dazu erklärt er zunächst die mittelalterlichen Formen von Verdächtigung und sozialer Typisierung, die sich in den Begriffen Infamie und Unehrlichkeit widerspiegeln. Die Städte, Vorreiter der obrigkeitlichen Reglementierungen, verwiesen zwielichtige "Buben" in der "Stadtauskehr" zwar regelmäßig, aber eben nicht endgültig vor die Tore. Der Umgang mit den Armen verdeutlicht den Wandel. Zunächst fand eine Verlagerung der Almosengabe aus dem Kirchenraum in die städtische Verwaltung statt. Mit der Verbreitung des Begriffs vom "Hausarmen" kam es zu einer Aufspaltung der Bedürftigen: fortan gab es würdige und unwürdige Bettler. "Offene" und fremde Bettler wurden vertrieben und zunehmend ausgeschlossen. Im 16. Jahrhundert entstand mit einer rigiden Gesetzgebung eine neue Form sozialer Diskriminierung. Der "starke Bettler" war derjenige, der nach Auffassung der Obrigkeit zwar kräftig genug zum arbeiten wäre, aber eben nicht willig. Die neue Almosengesetzgebung der Obrigkeit sah Bettelzeichen, Kontrolle und Registrierung vor, kurz die Verwaltung der Armut. Gelöst ist das Armutsproblem indes bis heute nicht.
Die Funktion und Logik von Hinrichtungsritualen erläutert Jutta Nowosadtko. Sie beschreibt die Art und Weise wie die öffentlichen Tötungen durch zeitgenössische Medien verbreitet wurden und gibt dann einen Überblick über die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der rituellen Handlungen durch die Wissenschaft. Anhand von amtlichen Verlautbarungen und Chroniken rekonstruiert sie das tatsächliche Geschehen. Die religiöse Durchdringung der Rituale setzte erst um 1400 ein. Das "erbauliche Sterben" hatte im 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Nowosadtko kommt zu dem Ergebnis, dass die Zeremonien in der Wirklichkeit nicht so gleichförmig stattfanden, wie die überlieferten Festlegungen es vermitteln, sondern dass es durchaus Alternativen im rituellen Grundkonzept gab, die allen Beteiligten Handlungsspielräume offen ließ.
Udo Fleck kann als Experte für das rheinische Räuberwesen und - nach seiner Edition der Vorermittlungsakten - insbesondere für die Schinderhannesbande gelten. Mit seinen Untersuchungen entmythologisiert er den neben Störtebeker bekanntesten deutschen Räuber. In einem einleitenden Überblick über die Räuberbanden des 18. Jahrhunderts im Rheinland stellt er den historischen Rahmen dar. Es folgt eine Analyse der Taten und der Opfer sowie der Zusammensetzung der Bande des Johannes Bückler. Dann wendet Fleck sich den Verfolgungsbehörden zu und skizziert die Probleme der Verwaltung des neufranzösischen Gebietes. Schließlich betrachtet er das Nachleben bzw. das Bild des Schinderhannes im 19. und 20. Jahrhundert, das von romantischer Verklärung (edler Räuber) bis zu politischer Verherrlichung (nationaler Held) reicht. Heute dient er als populärer Werbeträger für die unterschiedlichsten Produkte. Bestrebungen ihn als Markenzeichen der Initiative "Qualität aus Rheinland-Pfalz" zu präsentieren sind jedoch wieder aufgegeben worden. Das wäre wohl auch zuviel des Guten gewesen.
Im letzten Beitrag beschäftigt sich Jens Petersen mit der politischen Gewalt im faschistischen Italien. Er betont die Bedeutung des Ersten Weltkrieges und das Auftreten des Nationaldichters Gabriele D"Annunzio, der nicht nur mit seinem "Marsch auf Fiume" 1919 zum Vorbild für Mussolini wurde. In den "roten Jahren" 1919/20 herrschten die neuen Massenparteien und löste in den bürgerlichen Kreisen Furcht aus. Das angeblich drohende rote Chaos legitimierte die sich entwickelnde faschistische Gewalt in Form von Parteimilizen, den Squadra. Den Aufstieg Mussolinis erklärt Petersen mit der Suche nach einer "Führernatur". Dem "Duce" gelang es jedoch, das Gewaltpotenzial seiner Parteimilizen durch ihre Einbindung in staatliche Einrichtungen zu entschärfen. Die Erfahrungen der Italiener mit der faschistischen Gewalt haben sie bis heute sensibilisiert, im aktuellen politischen Geschäft wird jeder Anklang möglichst vermieden. Gewaltaktionen von rechts werden vom italienischen Staat hart verfolgt.
Alle Texte sind sie sehr flüssig zu lesen. Da sie auf Vorträgen beruhen, ist beim Abdruck auf Fußnoten verzichtet worden. Dafür schließen ausführliche Literaturhinweise jeden Beitrag ab, mit deren Hilfe sich der interessierte Leser in das jeweilige Thema vertiefen kann. Einige Abbildungen lockern den Band zusätzlich auf. Hervorzuheben ist die entfaltbare farbige Karte, welche die Aktionen der Schinderhannesbande zeitlich und räumlich visualisiert. Wer einen leichten Einstieg in die historische Kriminalitätsforschung sucht, ist mit diesem Band sicher gut bedient.
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