Auf der eigenen Spur
Eine fein gesponnene Beziehungsgeschichte, die Unterhaltung und Spannung bietet.
Hab acht auf meine SchritteMama Mia eine tote Bella Donna
Dieses Werk, hier als Hörbuch, kann für eine ganze Reihe einfallsloser Autopsie-Thriller stehen: Austauschbarer Plot, vorhersehbare Handlung und viele Organe...
BelladonnaPik ist Trumpf
Ein eher schwacher Krimi von Boris Akunin. An der Lesung von Andreas Steck gibt es aber nichts auszusetzen.
Russisches PokerAngewandte Wissenschaft
Ein klischeeüberladener, wirklich nicht gelungener Krimi als Hörbuch, an dem wohl vor allem Blutgeile ihre Freude haben.
SchwesternmordFrischer Wind in Kumla
Hakan Nesser hat sich von Inspektor Van Veeteren, seinem Protagonisten, mit dem er viele Erfolge feiern konnte, verabschiedet. Er beschreitet neue Wege. Es lohnt sich, ihnen zu folgen!
Die Schatten und der RegenWenn ein Toter weiter mordet
Ein Kriminalroman der Extraklasse. Unbedingt lesen!
Der vierzehnte SteinSträhl lässt grüssen
Der erste Auftritt von Kriminalpolizist Cavalli und Bezirksanwältin Flint. Ein zweiter darf gern folgen.
Fremde HändeBrunettis Ahnherr entdeckt
Die Kulisse des winterlichen Venedigs und die latente Frivolität seines gesellschaftlichen Lebens, die Habsburgerzeit rund um die faszinierende Gestalt der Kaiserin Elisabeth und eine sich anbahnende Liebesgeschichte klingen als Hintergrund eines Romans wenig neu und spektakulär. Und wenn dann die Hauptfigur auch noch in Gestalt eines rührigen Commissarios, halbherzig, aber seriös in seiner venezianischen Questura arbeitend, aufgerieben durch Korruption und Filz, daherkommt, scheint die Frage nahe liegend: Greift da jemand auf Bekanntes und Bewährtes zurück? Dieser Jemand ist ein ebenso kultivierter wie angegrauter Herr namens Nicolas Remin, studierter Literaturwissenschafter, Philosoph und Kunsthistoriker, in der Lüneburger Heide und in der Toskana lebend, lesend und schreibend. Sein Debütroman "Schnee in Venedig" soll der Auftakt einer Serie um Commissario Tron, den letzten Spross eines verarmten venezianischen Adelsgeschlechts, sein. Auf einem österreichischen Dampfer, der von Triest nach Venedig unterwegs ist, geschehen während einer stürmischen Nacht zwei Morde: Ein kaiserlicher Hofbeamter und eine junge Frau werden tot in einer Kabine der ersten Klasse entdeckt. Commissario Alvise Tron wird mitten aus den Vorbereitungen für den Maskenball in seinem Palazzo gerufen und beginnt mit den Ermittlungen. Schon bald allerdings wird er von höherer Stelle kalt gestellt; mit der Begründung, die Morde stünden im Zusammenhang mit einem geplanten Attentat auf die in Venedig weilende Kaiserin, übernimmt die österreichische Militärpolizei den Fall. Trotz anders lautender Anweisungen seines Polizeipräsidenten ermittelt Tron auf eigene Faust weiter und entdeckt Abgründe menschlichen Trachtens. Aus dem Hintergrund von zwei mutigen Frauen, der Principessa di Montalcino und der jungen Kaiserin Elisabeth, unterstützt, lässt sich der Commissario nicht mehr von seinem Weg abbringen, auch dann nicht, als er selber in höchster Gefahr schwebt. Nicht alles ist Remin auf seinen ersten dreihundertfünfzig Seiten vollends geglückt. Es bleibt etwa schleierhaft, weshalb er in seinen Kapiteln konsequent die Zeitformen ändert. Es verwirrt, wenn die Kaiserin jeweils in der Gegenwart lebt, einige Seiten später der Haupttäter aber in wechselnden Vergangenheitsformen mordet. Die eine oder andere Szene mutet etwas seltsam an, entbehrt gar einer gewissen Logik, ohne dass sich dies allerdings gravierend auf die Handlung auswirkt. Wer das Buch am Schluss zufrieden zuklappt, mag sich zudem fragen, ob das Happyend so süss ausfallen musste. Abgesehen von diesen Schönheitsfehlern, bereitet das Buch viel Spass. Man wird entführt in eine fast vergessene, sinnliche Zeit, begleitet von einer gepflegten, bildhaften Sprache und einer sorgfältig aufgebauten und entwickelten Handlung. Es wird interessant sein, den Debütanten Nicolas Remin in den kommenden Jahren zu begleiten. Es scheint, als hätte sich der zurückhaltend und stilvoll wirkende Literat und Philosoph viel Zeit für seinen Erstlingsroman gelassen. Und man darf wohl getrost davon ausgehen, dass der Autor, der sein Leben eigenen Angaben zufolge hauptsächlich lesend verbracht hat, hohe Ansprüche an sich und sein literarisches Schaffen stellt. Commissario Tron hat als Hauptfigur durchaus Potential. Eingebunden in ein authentisches geschichtliches Umfeld, und als glaubwürdige Gestalt in seiner Persönlichkeit und seinen Beziehungen zunehmend entfaltet, kann er uns in den weiteren Folgen der Serie viel Freude bereiten.
Schnee in VenedigEine Mutter hatte vier Töchter
Die 62 jährige Inger Alfvén gehört zu Schwedens Bestsellerautorinnen. Ihr Thema sind Frauenleben. Jedes Kapitel der insgesamt 319 Romanseiten schildert das Geschehen aus einer anderen Sicht, wobei das Wort Geschehen nicht ganz passend ist. Es ist keine konventionelle Handlung mit Anfang, Mitte und Ende aus der Sicht eines Erzählers. Es treten verschiedene Menschen auf, bei den meisten ist Ottilia ein Bindeglied. Ottilia selbst tritt erst ganz spät im Roman in Erscheinung, als der/die LeserIn sie schon längst durch die Wahrnehmung der anderen Protagonisten kennengelernt und sich ein Bild gemacht hat. In psychologisch dichter Atmosphäre schildert Alfvén das innere Erleben dieser Menschen, die in der schwedischen Stadt Huvudstaden leben. Die wichtigsten dabei sind Katarina, Lisa und Herta, die Töchter Ottilias aus ihrer Ehe mit Wilhelm. Die ersten beiden sind erwachsen und leben nicht mehr zu Hause. Herta, die jüngste Tochter, hat keinen nennenswerten Bezug zu ihren älteren Schwestern Lisa und Katarina. Der Vater Wilhelm ist in das Landhaus gezogen und hat sich dort zur Ruhe gesetzt. Hillevi ist ebenfalls eine Tochter Ottilias, sie wurde aber zur Adoption freigegeben und erfuhr erst als sie heiraten wollte, dass sie nicht die ist, die sie zu sein glaubte. Die Erkenntnis erschüttert ihr Leben und sie flüchtet in die Stadt, Ottilia zu suchen. Den weiblichen Hauptprotagonisten gemeinsam ist eine etwas angestrengte Beziehung zur Mutter. Ottilias Mutter Olga lebt in einem Pflegeheim, sie ist meist verwirrt, doch war sie ihr Leben lang psychisch krank. Das Kind Ottilia war schon früh auf sich gestellt und musste sich einen Panzer zulegen. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, genießt Ottilia als Erwachsene den beruflichen Aufstieg ihres Mannes und, nachdem sie sich entschlossen hat selbst berufstätig zu werden, den eigenen Erfolg, insbesondere in materieller Hinsicht. Katarina ist der Mutter am ähnlichsten, sie ist eine erfolgreiche Innenarchitektin. Auch sie ist auf ein geregeltes und sicheres Leben bedacht, symbolisiert auch in ihrem perfekt eingerichteten Haus. Lisa dagegen ist eine erfolglose Malerin, von Geldsorgen geplagt, sie wünscht sich mehr Verständnis und Liebe von der Mutter, die aber dieses Leben überhaupt nicht nachvollziehen kann und auch Lisas Kunst nicht versteht. Herta ist 17 Jahre alt, auf dem Weg sich zu finden, vom Vater fühlte sie sich schon als Kind besser verstanden, er passte sich ihrer Gedankenwelt an, die Mutter blieb die kühle Realistin. Und Hillevi? Es scheint, dass Hillevi auf dem besten Weg ist, in die Fußstapfen ihrer Großmutter Olga zu treten. Es sind zwei Persönlichkeiten, die in ihr agieren und sich streiten. Hillevi tritt in Kontakt zu Ottilia, gibt sich aber nicht als Tochter zu erkennen. Eine Mutter hatte vier Töchter, so heißt der schwedische Originaltitel und gibt damit das Thema dieses Romans vor. Die Mutter Ottilia ist eine Frau, die sich spät ein eigenes Leben aufgebaut hat, in diesem Leben hat Familie im bestverstandenen Sinn wenig Platz und doch macht sie sich insgeheim viele Gedanken um die Töchter, die so verschieden sind. Sie ist ihnen gegenüber nicht indifferent, auch wenn sie ihre Gefühle durch ein strenges und abweisendes Verhalten verstecken will. Sie ist erfolgreich und genießt dies, spürt aber nicht, dass sie hierbei auch Verdrängung betreibt. Von ihrem ersten Kind weiß niemand, und auch sie selbst scheint wenig Gedanken daran zu verschwenden. Dieses Kapitel hat sie so tief in sich verborgen, dass sie selbst kaum damit konfrontiert wird. Sie ist aber nicht wirklich oberflächlich, sie ist eine Frau an der Wegscheide, sie spürt, das Alter kommt und mit den sich ankündigenden Wechseljahren auch unbestimmte Ängste. Der Roman ist als eine psychologische Studie über diese vier Töchter und ihre gemeinsame Mutter angelegt. Doch das Thema, welches die Leser am brennendsten interessiert hätte, wird ausgespart. Hillevi gibt sich der biologischen Mutter nicht zu erkennen und so wissen wir auch nicht, ob und wie Ottilias Leben und das ihrer anderen Töchter sich verändert hätte. Dies ist schade, denn es bleibt das Gefühl, dass dies nur der Beginn war und das Buch wird am Ende mit offenen Fragen zugeschlagen.
Vier TöchterEin anderes Amerika
James Lee Burke ist kein Anfänger. Der 1938 geborene Schriftsteller publizierte bereits mit 19 Jahren Jahren einen ersten Text, mit 34 hatte er vier Romane verfasst. Dann kam ein Publikationstief. Nachdem es schließlich zu einer Veröffentlichung kam, wurde ausgerechnet ein jahrelang abgelehnter Roman für den Pulitzerpreis nominiert. Seit den 80er Jahren schreibt Burke Kriminalromane. Der als deutsche Erstveröffentlichung bei Goldmann erschienene Titel "Straße ins Nichts" stammt aus dem Jahre 2000 und heißt im Original "Purple Cane Road". "Straße ins Nichts" ist kein Krimi, der sich schon nach ein paar Seiten als "Pageturner" erweist, also als ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann, so gespannt ist man auf den weiteren Verlauf. Es wirkt lange Zeit unstrukturiert, muss der Autor doch Rückgriffe machen, um Motivationen und Situationen zu erklären. Manchmal geschieht dies unvermittelt, so dass man glauben könnte, der Text sei gekürzt, es fehle ein Stück. Nach einiger Lesezeit gibt sich dieses Problem und der Roman wird im Aufbau in konventionellere Bahnen gelenkt, was der Aufmerksamkeit des Lesers dienlich ist. Dave Robicheaux, Polizist in Louisiana, erfährt, dass seine Mutter, die 30 Jahre zuvor die Familie verlassen hatte, nicht nur eine Prostituierte gewesen sein soll, sondern von Polizisten als unerwünschte Zeugin ermordet wurde. Dieses Wissen läßt ihn nicht mehr los, er will nicht glauben, was er erfahren hat. Also versucht er, die Umstände des Lebens und Todes seiner Mutter zu erfahren. Dabei stößt er auf viele Widerstände, die er brechen muss. Was an diesem Buch interessiert, ist die Charakterzeichnung der Protagonisten und die atmosphärische Stimmung Louisianas. Einerseits zeigt Burke die schönen Seiten der Landschaft und die ruhige Atmosphäre des Südens. Auf der anderen Seite aber, beschreibt er auch die unglaublich ärmlichen Verhältnisse, die man in den Südstaaten antreffen kann. "Dann bogen wir auf eine unbefestigte Piste ab, die durch Ackerland, an farblosen Hütten und Brachen im Zuckerrohr vorbeiführte, auf denen allerlei Wellblechschuppen und landwirtschaftliches Gerät standen. Inzwischen war es später Nachmittag, und der Wind hatte zugelegt und fegte durch die Zuckerrohrfelder. Wolken zogen vor der Sonne vorbei, und die Luft roch nach Regen, Salz und den modernden Kadavern toter Tiere in den Abwässergräben." Burke zeigt mittels der Stimmungsbilder und der atmosphärischen Beschreibung ein anderes Amerika. Ihm geht es nicht um das glatte und über Klimaanlagen heruntergekühlte saubere Amerika, wie wir es aus dem Osten der Vereinigten Staaten kennen. Seine Welt ist der ländliche Süden mit seinen subtropischen Klimaverhältnissen, der an den Nerven zerrenden hohen Luftfeuchtigkeit, den materiell armen Menschen, den Sumpflandschaften mit Alligatoren und Schlangen. Wer schon einmal durch die Südstaaten gefahren ist - gemeint ist der tiefe Süden und nicht Florida oder Washington D.C. -, dem ist aufgefallen, dass man es mit einem gespaltenen Land zu tun hat, dass es eine unsichtbare Grenze, ein Nord-Süd-Gefälle gibt, die Folgen des Bürgerkrieges noch immer zu spüren sind. In Burkes Roman haben die Menschen sich angepasst, der Sumpf der Landschaft findet seine Entsprechungen in den Menschen und Korruption ist an der Tagesordnung. Aber Dave Robicheaux ist kein Engel, der angetreten ist, nur Gutes zu tun und den Sumpf trockenzulegen. Er ist trockener Alkoholiker, dem Gewalt nicht fremd ist und der mit sich kämpfen muss, seine Wut und seinen Zorn im Griff zu behalten. In den Text eingestreut sind immer wieder politische Kommentare, so zum Strafvollzug, der Todesstrafe, aber auch der allgemeinen Politik, wie der fehlenden Umweltpolitik der USA. Wer einen anderen amerikanischen Süden kennenlernen will, die Bilder, die "Vom Winde verweht" in unseren Köpfen hervorgerufen hat, aktualisieren will, dem sei die Lektüre dieses Kriminalromans empfohlen.
Strasse ins NichtsDas Reiben an den Verhältnissen
Die 1960 geborene Polina Daschkowa ist nicht umsonst eine Bestsellerautorin in ihrer russischen Heimat und hat sich nicht umsonst mit ihrem Debütroman "Die leichten Schritte des Wahnsinns" auch das nichtrussische Publikum erobert. Ihr zweiter, jetzt auf Deutsch im Aufbau Verlag vorliegende Roman "Club Kalaschnikow" beweist dies. Es ist ja bekannt, dass es zu den Funktionen eines guten Kriminalromans gehört, etwas über die Gesellschaft zu erzählen, in der er spielt. Und genau dies macht "Club Kalaschnikow". Der Roman ist ein Kurs in neuerer russischer Alltagsgeschichte, der Leser erfährt wie es in der spätkommunistischen und postkommunistischen Zeit Russlands zuging und zugeht. Das fremde Russland erhält ein Gesicht, insbesondere was die neue russische Gesellschaft betrifft. Um was geht es? Der Besitzer des Casinos "Sternenregen" Gleb Kalaschnikow, verheiratet mit der Primaballerina Katja, ist nicht der angenehmste Zeitgenosse. Er trinkt zuviel, legt sich gerne mit den Menschen an, betrügt seine Frau. Nach einer Theaterpremiere Katjas brechen die beiden frühzeitig von der Premierenfeier auf und fahren nach Hause. Noch bevor sie das Haus betreten können, wird Gleb von einem Schuss tödlich getroffen. Da Auftragsmorde in dem Milieu Glebs nicht ungewöhnlich sind, erwägt man zunächst einen solchen. Schließlich verkehrt Gleb nicht nur in den obersten Kreisen, sondern sein Casino wird auch durch einen "Dieb im Gesetz", einen Paten, kontrolliert, der es wiederum gegen einen Konkurrenten zu verteidigen hat. Aber im Verlaufe der Untersuchungen wird schließlich Olga, die letzte Geliebte Glebs, verdächtigt geschossen zu haben und in Untersuchungshaft genommen. Soweit zur erzählten Handlung. Das Buch ist aber durch die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, weit mehr als ein Roman um einen Mord. Daschkowa erzählt nämlich ganz langsam, sie leistet es sich, ihre Charaktere mit einer Biografie auszugestalten, in der Zeit zurückzugreifen, auch Nebenfiguren erhalten eine Vergangenheit auf den insgesamt 445 Seiten. Der Leser ist zur Aufmerksamkeit gezwungen, will er sich nicht in den Zeitsprüngen der Lebensläufe verlieren. Daschkowa möchte, dass man ihre Protagonisten versteht, dass ihre Entwicklung und ihre Beweggründe erkennbar sind, und läßt mit dieser Strategie auch das Russland der Vorwendezeit vor dem Auge des Lesers auferstehen. Sie schildert die Überlebensstrategien im alten Russland, das Scheitern mancher im neuen Russland, aber auch wie es anderen gelingt, in der neuen Zeit zu einem schnellen Erfolg zu kommen. "Geld regiert die Welt", diese nicht neue, fast banale und trotzdem so wahre Weisheit ist auch in der neuen russischen Demokratie angekommen und wer zudem noch über das richtige Netzwerk, sprich Beziehungen, verfügt, macht seinen Weg. Unabhängigkeit gepaart mit Erfolg sind praktisch ausgeschlossen. Die Zwänge, denen die Menschen im alten System ausgesetzt waren, sind lediglich ausgetauscht worden, denn die neuen mafiösen Kontrollsysteme sind den alten Beziehungen nicht unähnlich. Die frühere vorgebliche Einheitsgesellschaft hat sich zu einer zweifachen Klassengesellschaft mit Reichen und Armen entwickelt. Beide Schichten könnten noch weiter aufgesplittet werden und werden von Daschkowa bis hin zum Quasi-Obdachlosen porträtiert. Das Land ist im Kapitalismus angekommen, aber wie auch in den Frühzeiten anderer kapitalistischer Systeme sind die Diskrepanzen unerträglich stark und werden es solange sein, wie der gesellschaftliche Umbau braucht. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm lassen an das 19. Jahrhundert Europas und der USA denken, mit den immens Reichen der Gründerzeiten und den bitterarmen Menschen, mit deren Arbeitskraft der Reichtum der anderen geschaffen wurde. Die Schilderungen der Moskauer Wohnverhältnisse sind nur ein Beispiel dafür und erinnern in der Belegungszahl an die Arbeiterbehausungen Berlins oder New Yorks. Wie Christa Wolf bei der Verleihung des Deutschen Bücherpreises für ihr Lebenswerk noch einmal sagte, bedeutet Literatur auch die Reibung an den Verhältnissen. Und genau das kann Polina Daschkowa als Motivation unterstellt werden. Sie reibt sich an den Umbruchzeiten mit den negativen Ausprägungen, verarbeitet diese literarisch und hält ihren Landsleuten den Spiegel vor, zeigt ihnen in welchem Stadium sie sich befinden. Jeder muss für sich entscheiden, welchen Weg er/sie wählt, um in der neuen Gesellschaft anzukommen. Dabei geht es oft um die schlichte Frage, wieviel Moral man sich leisten kann und wann Moral sich zu Unmoral wandelt. Das Theater in dem Katja tanzt, hätte ohne die Sponsorengelder Glebs nicht existieren können, nur durch die Symbiose mit dem Nachtclub war es möglich das Ballett aufrechtzuerhalten, der Truppe Lohn und damit Brot zu geben. "Entweder stimmte Katja zu, den Platz von Gleb einzunehmen, kopfüber in den dunklen, gefährlichen, übelriechenden Sumpf mit dem schönen Namen "Glücksspiel" zu tauchen; dann brauchte sie sich um das Theater und um ihr eigenes materielles Wohlergehen keine Sorgen mehr zu machen. Oder sie rümpfte weiterhin verächtlich die Nase (... ). Die Wohnung und den Wagen würde ihr niemand wegnehmen, aber das Theater wäre ruiniert. (...) Einige würden ein neues Engagement finden, aber viele würden auf der Straße stehen. Schuld wäre nur sie allein." Katja fühlt sich verantwortlich für ihre Kollegen im Theater, sie muss ihre moralischen Bedenken über den Haufen werfen, um den Menschen in ihrer nächsten Umgebung eine Perspektive für das weitere Leben zu geben. Katja kennt aber auch die Risiken, die sie damit eingeht, denn der Mann, der den Club kontrolliert, kommt ihr als zwar als Freund entgegen, doch darf sie sich keinen Illusionen hingeben, denn Lunjok ist ein "Pate", für den Menschen, die sich seiner Kontrolle entziehen, nicht existieren. Katja ist durch den plötzlichen Tod ihres Mannes aufgewacht, sie sieht den Dingen nun realistisch ins Auge, wird aktiv und tut, was sie tun muss. Früher kümmerte sie sich nur um das Ballett, ließ alles andere von sich abprallen, nutzte was sie durch den Tanz gelernt hatte: Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung. Diese Eigenschaften wird sie weiterhin brauchen, doch auf andere Art als bisher einsetzen. Sie ist im Club Kalaschnikow, der Metapher für Beziehungen und Abhängigkeiten angekommen. Doch weil Katja die Unterschiede von Moral und Unmoral bekannt sind, wird sich unter ihrer Führung der Club verändern. Und dies ist wahrscheinlich, ob man es mag oder nicht, die realistische Sichtweise eines gesellschaftlichen Wandels und Neubeginns. Der Umbruch kann nicht von heute auf morgen funktionieren. Sinn macht nur das langsame Hineinwachsen in das Neue, versehen mit einem langen Atem, bis die alten Strukturen ihre Macht verloren haben.
Club KalaschnikowDie Kruste des Lebens
Da sitzt man mit den Lesenotizen in der chinesischen Kladde, die chinesische Thermoskanne mit dem Tee neben sich, noch ganz benommen von der Lektüre des auf Deutsch erschienenen "Das Auge von Tibet" von Eliot Pattison vor seinem Laptop, um den Roman zu rezensieren. Fast verschluckt man sich bei dem Gedanken an die chinesischen Produkte mit denen man doch indirekt China unterstützt. Das mag lächerlich sein, zeigt jedoch sehr deutlich die Wirkung die der Amerikaner Pattison mit seinem Roman erzielt. Es ist ihm gelungen, ein Anliegen zu transportieren. Denn dieser Roman ist nur vordergründig ein Krimi, im Grunde genommen handelt es sich um einen politischen Roman, einen Roman über das neue China und den Umgang mit den Minderheiten im Land. Merkwürdig aktuell wird der Text mit einem kürzlich erschienen Zeitungsbericht des Berliner Tagesspiegels, in dem über einen polizeilichen Einsatz und die Willkür der Beamten gegen einen tibetischen Lama in Berlin berichtet wird. Auf der Handlungsebene von "Das Auge von Tibet" spielt, wie schon im ersten Roman des Autors, der ehemalige Ermittler Shan - früherer Regierungsbeamter, dann Häftling im Gulag - die tragende Rolle. Obwohl, genaugenommen, muss der Hauptprotagonist sich seine Rolle mit Tibet teilen. Denn die religiösen Traditionen, die Lamas und ihre Überlieferungen sind auch für den Han-Chinesen Shan zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, er wurde sozusagen "tibetisiert". Shan hält sich in einem tibetischen Kloster auf, offiziell wurde er nie aus dem Lager entlassen und darf sich nur im Bezirk Lhadrung aufhalten, weshalb er keine Papiere besitzt. Als nun die Mönche des Klosters von der Ermordung einer Lehrerin und dem Verschwinden eines Lamas außerhalb Lhadrungs erfahren, erhält Shan die Aufgabe zu ermitteln, was geschehen ist. Er macht sich gemeinsam mit einem Widerstandskämpfer, einem alten Tibeter und dem Mönch Gendun auf den Weg in den Norden. Shan kann nur verdeckt ermitteln, da die Gruppe Lhadrung verlassen muss. Er wird damit zu einem Illegalen. Die Lehrerin Lau, zuständig für eine Gruppe Waisenkinder, soll ertrunken sein, was sich bald als falsch erweist. Spätestens, nachdem Shan von dem gewaltsamen Tod zweier Schüler Laus erfährt, kann er nicht mehr locker lassen, er muss, auch wenn er manchmal nicht weiter weiß, die Wahrheit finden, denn er befürchtet, dass noch mehr Waisenkinder Opfer des oder der Mörder werden könnten: "Etwas hatte die empfindliche Balance gestört, und nun starben Menschen deswegen." Wir dürfen uns von der Öffnung Chinas, von dem chinesischen Kapitalismus sozialistischer Prägung, nicht täuschen und blenden lassen, sagt und warnt uns der Autor mit diesem Roman, denn noch ist China weit davon entfernt eine freie Gesellschaft zu sein. Religionsausübung ist noch immer ein Grund für Verhaftungen (wie jüngst nur Stunden nach der Abreise des amerikanischen Präsidenten), Tibet noch immer nicht in Unabhängigkeit, der Dalai Lama ins Exil gezwungen. Aller Öffnung zum Trotz, führen die Minderheiten ein klägliches Leben um ihre ethnische Identität. Warum nur tun sich Regierungen so schwer mit der Bewahrung der Traditionen durch ihre ethnischen Mitbürger? Da ist China ja kein Einzelfall, müssen sich auch westliche Kulturen an die eigene Nase fassen, doch die programmatische und gewalttätige Unterdrückung und Ausrottung, die gilt für die Volksrepublik China unter dem Mantel nur dem Volk zu dienen. Shans Erkenntnis jedenfalls ist, "daß eine Arbeit im Dienst der Regierung nicht immer dasselbe ist wie eine Arbeit im Dienst des Volkes". Dem Roman gelingt es, die vielen existierenden Welten, ob mythologisch oder politisch, zu vermitteln: "In gewisser Weise glich die gesamte Volksrepublik China einem bunt zusammengewürfelten Stück Stoff, einem Flickwerk aus ineinander verwobenen Menschen, Kulturen und Historien, die durch Zwang und Doktrin notgedrungen ein Ganzes bildeten, wußte Shan." Der Roman ist keine Anklage an ein sozialistisches System an sich, ist nicht geprägt von einer Kommunistenphobie. Pattison erkennt sehr wohl, dass auch der Kapitalismus US-amerikanischer Prägung sich von den Menschen selbst entfernt hat, die Menschen über ihren Besitz definiert. "Niemand ist verantwortlich. Die Leute lehnen sich einfach zurück und lassen das Übel geschehen. Wälder werden abgeholzt. Kulturen werden zerstört, Traditionen verworfen, weil sie nicht Internetkompatibel sind. Kinder wachsen in dem Glauben auf, das Fernsehen sei überlebensnotwendig. All ihre Wertbegriffe entstammen der Werbung." Das amerikanische Paar, welches sich aus dieser Erkenntnis heraus der Verantwortung stellt, muss bitter mit dem Tod des Sohnes dafür büßen. Wären sie in den Staaten geblieben, hätten sich der Masse angeschlossen, wäre ihr Sohn um wundervolle Erfahrungen im Leben mit den Nomaden ärmer, doch am Leben. Nach tibetischer Sicht ist dies aber unwichtig, denn Wahrhaftigkeit stellt ein weit höheres Ziel als Lebensalter dar. Überhaupt können Pattisons Schilderungen tibetischer Traditionen ein wunderbarer Ansatz zur Beschäftigung mit diesen sein, wie z.B. die Übung "Kruste des Lebens": um zur wirklichen Oberfläche der Steine vorzudringen, ihre Schönheit unter der Schmutzkruste zu erkennen, werden sie mit Wasser abgewaschen. Eliot Pattison hat eine Ausbildung zum Rechtsanwalt und verdiente sein Geld als Berater für die Wirtschaft. Daneben publizierte er im journalistischen Bereich und schrieb bzw war Herausgeber von Büchern, die sich mit wirtschaftlichen und juristischen Themen beschäftigten. Er hielt sich wiederholt als Reisender in China auf. Pattison hat nicht nur vor Ort Eindrücke gesammelt, sondern sich auch mit dem Tibet vor der Besetzung durch China beschäftigt. Man spürt, der Autor hat seine Aufgabe ernst genommen und deshalb glaubt man ihm auch das Anliegen des Romans. Es muss darauf hingewiesen werden, dass man mit dem "Auge von Tibet" ein dickes Buch vor sich hat, es sind ohne die Worterläuterungen und die Schlussbemerkung des Verfassers 691 Seiten zu bewältigen. Aber es sind 691 traditionell erzählte Seiten, die sich lohnen, auf denen man angeregt wird, auch über den eigenen Tellerrand zu blicken, sich eines wirklich magischen Landes zu erinnern, eines Landes, dessen Menschen Glück und Zufriedenheit ausstrahlen, trotz all des Leids, welches sie und ihr Land erfahren haben. Wenn Pattison die Gesichter der tibetischen Mönche beschreibt, strömt deren Ruhe und Ausgeglichenheit förmlich aus den Seiten heraus und man sieht die fröhlichen Gesichter vor sich. Der Klappentext übertreibt in keinster Weise, wenn es da heißt, Eliot Pattison habe die Seele Tibets eingefangen, denn es gelingt ihm, tibetische Mythologie und Lebenseinstellung darzustellen. In der Schlussbemerkung erfährt der Leser, nicht nur Figuren, sondern auch viele Schauplätze der Erzählung sind fiktiv und bekommt weiterführende Literaturhinweise.
Das Auge von TibetFalsche Fährten
Steinfurt im Münsterland, Februar, Fastnachtszeit. Man findet die Leiche einer jungen Frau, noch im Tod eine Schönheit. Der Fund ist bizarr, denn die Leiche, bekleidet nur mit einem Unterkleid, steht gegen einen Baum gelehnt, Hand- und Fußstellung als würde sie Tango tanzen. Verletzungen sind keine sichtbar, doch ist der Körper von Eis überzogen und gefroren. Wer ist die Tote? Zunächst glauben Kommissar Rohleff und seine Mitarbeiter, dass es sich bei dem Fund um eine junge Türkin handelt, wird sie doch auch durch die Mutter identifiziert. Aber dann kommen den Ermittlern Zweifel. Kriminalromane mit lokalem Bezug sind allseits beliebt und sprechen für eine Verbundenheit von Leser und Autor zur geografischen Region. Doch auch Ortsfremde lassen sich gern zu einer Lektüre verführen, läßt diese im besten Fall eine Kopfreise zu dem beschriebenen Ort zu. Eva Maaser stammt aus Westfalen und siedelte auch ihre beiden Krimis - sie eröffnete die Reihe mit dem 2000 erschienenen Roman "Das Puppenkind" - dort an. Neben dem Kriminalgenre ist Maaser noch im Feld des historischen Romans tätig, darunter ihr Debüt von 1999 "Der Moorkönig". In "Tango Finale" beschränkt sich der regionale Bezug mehr oder weniger auf ein "name dropping" und führt Leser und Ermittler denn auch für das letzte Drittel nach Berlin. Hier allerdings ist Ortskenntnis und/oder eine gute Recherche ersichtlich und macht aus dem Münsterländer Krimi fast ein Berlin Buch. Nur die Fahrpreise der öffentlichen Verkehrsmittel lassen erkennen, dass das Manuskript schon länger vorlag, denn die Berliner Verkehrsbetriebe scheinen die Preise mit alljährlicher Regelmäßigkeit zu erhöhen. Interessant sind die Charaktere der Ermittler, der Roman kann hier als eine Verhaltensstudie gelesen werden, was ihm gut bekommt. Näher ausgestaltet sind Kommissar Rohleff und Harry Groß. Rohleff muss sich mit seinen späten Vaterfreuden auseinandersetzen. Die Gefühle zum Sohn sind noch gespalten, denn im Vorfeld der Schwangerschaft seiner jungen Frau musste Rohleff einige ärztliche Prozeduren über sich ergehen lassen, da "die Qualität seines Spermas zu wünschen übrigließ". Seine Unausgegorenheit wirkt sich auch im Verhältnis zu dem Kollegen Groß von der Spurensicherung aus. Seit Rohleff mit einem weiteren Kollegen Harry Groß zu Hause aufsuchte, gärt die Gerüchteküche: "Harry Groß benutzte Taschentücher mit eingesticktem Monogramm, keine Papiertücher wie gewöhnliche Leute, das paßte zu einem Mann mit einer Vorliebe für englischen oder schottischen Tweed, aber paßte es zu einem, der sich zu Hause ausschweifend in schwere Seide hüllte, auf der ein rotgoldener Drache prangte? Rohleff wunderte sich im stillen, allerdings kannte er sich mit Männer von Harrys sexueller Fraktion wenig aus." Wer hier, schon zu Beginn des Romans, entlarvt wird, ist Rohleff und nicht Harry Groß. Rohleff versteht nur den Einheitsmenschen, aber nicht den, der aus dem allgemeinen Schema herausfällt. Harry Groß ist ein Kulturmensch mit Sinn für Ästhetik, für die schönen Dinge im Leben. Dies reicht aus Rohleff zu verunsichern und in Groß einen Homosexuellen zu sehen. Den Vorurteilen sind Tür und Tor geöffnet. Zu Rohleffs und seiner Kollegen vagen Entschuldigung kann angemerkt werden, dass Groß sich in dem Fall der schönen Toten merkwürdig verhält und damit Rohleffs Haltung bestärkt. Harry Groß kannte die Tote, war ihrer Anziehung erlegen, plagt sich aber mit Erinnerungslücken betreffend den Nachmittag an dem er sie aufsuchte. Die Verwicklung ist ihm peinlich und am liebsten würde er den Fall schnell alleine klären, er weiß auch, er würde zu den Verdächtigen zählen, wenn er jetzt seine Bekanntschaft mit der Toten öffentlich machte. So agieren Rohleff und Groß nebeneinander, schleichen umeinander herum wie zwei kampfbereite Raubkatzen, von Verdächtigungen, Vorurteilen und Verletzungen geplagt. Erst nachdem der Fall gelöst und der Vorgesetzte mit sich im Reinen ist, kommen die beiden Ermittler sich wieder näher und man kann annehmen, dass beide etwas über sich und den anderen erfahren haben, was die zukünftige gemeinsame Arbeit positiv beeinflussen wird.
Tango finale