Beitritt der Türkei zur Europäischen Union um jeden Preis?
Bassam Tibi, Professor für Internationale Beziehungen in Göttingen, hat sich durch seine fundierten und differenzierten Stellungnahmen zum Thema Islamismus nicht nur in der Wissenschaft, sondern genauso in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht. Mit diesem Buch begeht er einen bewussten Tabu-Bruch: Er mag sich nicht an die in Deutschland herrschende, "fragwürdige politische Kultur" (S. 13) halten, die im Wesentlichen eine Selbst-Zensur der öffentlichen Debatte über den möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union darstellt; dies deshalb, weil die großen Fragen nicht öffentlich angesprochen werden. Tibi, der als Muslim kaum im Verdacht der Ablehnung des Islam oder des Rassismus gegenüber der Türkei steht - auch wenn sogar ihn dieser Vorwurf schon getroffen hat -, kommt schon seit längerem das Verdienst zu, auf eine Versachlichung der Debatte hinzuwirken.
Europa müsse angesichts der anhaltenden Migration und der Nachbarschaft zum Nahen Osten entscheiden, wie es mit dem Islam leben werde, schreibt die International Herald Tribune vom 26. Juli 2005 und genau darin erkennt der Autor eine der entscheidenden Zukunfts-Fragen. Doch: "Die Europäer drücken sich um eine solche Entscheidung" (S. 22) und - noch schlimmer - sie scheinen den Wert ihrer "offenen Gesellschaft" (Karl Popper) vergessen zu haben. Ob die Türkei zu Europa gehört, "ist keine außenpolitisch-strategische Angelegenheit, sondern eine Frage der zivilisatorischen Identität" (S. 40). Entscheidend aber ist, wie Tibi immer wieder betont: Was für eine Türkei?
Ausgangspunkt der Analyse ist der Politische Islam in der Türkei; über aus der Türkei entsandte Koran-Lehrer und Imame erfolgt ein "Export des Islamismus nach Deutschland" (S. 193) als Hauptzielgebiet türkischer Migration nach Europa. Ob die in Europa lebenden Türken einem aufgeklärten "Euro-Islam", der eine Trennung von Religion und Politik akzeptiert, oder dem Politischen Islam, der die Einheit von Religion und Staat fordert, anhängen, muss nach Ansicht des Autors eine "Messlatte" (S. 174) für die Beitrittsfähigkeit der Türkei zur EU sein.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage, das auf Europas Straßen immer häufiger zu sehende Kopftuch sei nicht Element des islamischen Glaubens, sondern eine Vorschrift der Schari'a. Im Koran enthält die Sure "al-Nur / das Licht" in Vers 30 und Vers 31 die exakt gleich lautende Vorschrift für Männer und Frauen, sie sollten "ihre Blicke senken und darauf achten, ihre Scham zu bewahren" (S. 130). Erst in der Schari'a wird der Schleier allein den Frauen auferlegt. Das streng gebundene Kopftuch ist nach Tibi somit "weder Ausdruck von Religiosität noch eine [traditionelle] Tracht. Die Verbindung dieses Kopftuchs mit einem langen Mantel ist die politische Frauen-Uniform des Islamismus," (S. 109) die von den Frauen übrigens selten auf eigenen Wunsch, häufiger auf Anweisung ihres Imams getragen wird, denn Frauen sind im Politischen Islam nur das Fußvolk. "Der politische Inhalt des Kopftuchs ist eine anti-westliche Weltanschauung" (S. 28), also keine Nebensächlichkeit. Tibi geht so weit, diese Uniformierung der Frauen "als ein Mittel zur zivilisatorischen Abgrenzung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen" (S. 131) und als mehr oder weniger bewusste Provokation sowohl der europäisierten Eliten in der Türkei als auch der Europäer zu deuten. Er spricht in diesem Zusammenhang von "Selbstethnisierung der türkischen Migranten" in der westlichen Welt.
Dass die Frauen der führenden Politiker der seit November 2002 in der Türkei regierenden AKP dieses Kopftuch tragen, wertet Tibi als Hinweis darauf, dass diese Partei die Schari'a vertritt und ihre Vertreter nicht "Boten für die Europäisierung der Türkei" sind. Tibi erblickt in der auch hierzulande vertretenen Auffassung, die AKP sei eine islamisch-konservative Partei, eine Verharmlosung bzw. "Tarnung" (S. 16). Über das Kopftuch als Einstieg will der Islamismus nämlich "die Akzeptanz der Schari'a ebnen" (S. 128) Zunächst geht es um einen innertürkischen Konflikt zwischen einer westlich orientierten Elite und einer urbanen Gegenbewegung der Revolte gegen die Moderne. Der Autor belegt seine These der AKP als versteckt islamistischer Partei aber noch mit weiteren Argumenten, so der Benachteiligung muslimischer Alawiten oder von Christen in der Türkei und des bisher am Widerstand des Staatspräsidenten gescheiterten Versuchs der Förderung fundamentalistischer Imam-Hatip-Religionsschulen. In diesen Schulen, deren Abschluss als Zugangsberechtigung zum Studium an Universitäten aufgewertet werden soll, "erfolgt unter der AKP-Herrschaft eine massive Bildung von Gegeneliten." (S. 127) Tibi spricht von einem "Entwestlichungsprogramm".
Der Autor fordert von den in Europa lebenden Muslimen, Bürger Europas zu werden anstatt sich primär dem Kollektiv aller Muslime, der Umma, zugehörig zu fühlen. Sie müssten "lernen, Loyalität zu einem nicht-muslimischen Gemeinwesen zu akzeptieren" (S. 173). Ein Muslim in Europa müsse "in erster Linie ein Individuum" und könne "als Bürger nicht Mitglied eines Umma-Kollektivs" sein. "Ist dies nicht möglich, bleiben Muslime nur Vorposten des Islam in Europa und Fremde, denen man mit Recht nicht vertraut. Dann haben die Islamisten gesiegt." (S. 187) Ohne diese Individualisierung und damit Europäisierung der in Europa lebenden Türken "ist der Anspruch der Türkei, zu Europa zu gehören, brüchig und für Europäer illegitim." (S. 171) Derzeit ist noch nicht entschieden, welche Richtung die Oberhand gewinnen wird, doch der Politische Islam gewinnt rasend schnell an Einfluss. Ein Arbeitspapier, das 1993 vom Islamischen Weltkongress in Kairo verabschiedet wurde, und das in der deutschen Moschee-Vereinskultur autoritativ ist, tritt offen für einen "Ghetto-Islam" ein (S. 181), der Basis der Da'wa, der Missionierung in Europa sein soll.
Die Stellungnahme des Autors ist eindeutig: Die Türkei kann zu Europa gehören, wenn sie es will. Die entscheidende Frage ist: "Haben europäische Politiker den politischen Willen und [...] die moralisch-zivilisatorische Stärke, von Ländern und Menschen, die nach Europa wollen, [...] eine westlich-säkulare Werte-Orientierung zu fordern?" (S. 25) - natürlich ohne Aufgabe ihres Glaubens, der damit zur Privatsache des Individuums wird. Oder geben wir zugunsten einer falsch verstandenen Toleranz unsere Werte auf und schlagen z.B. den Weg Kanadas ein, das inzwischen sogar die Rechtsprechung nach den zivilrechtlichen Teile der Schari'a im Westen des eigenen Landes auf freiwilliger Basis toleriert und offenbar nicht merkt, wie es damit eine der zentralsten Errungenschaften der westlichen Moderne, nämlich die Abschaffung der Sondergerichtsbarkeiten, grundlos aufgegeben hat. Für den Autor gibt es nur eine Möglichkeit: Dem "Schari'a-Geist" darf "kein Zutritt nach Europa gewährt werden" (S. 133).
Es hat schon etwas Beschämendes, wenn ein Wahl-Europäer wie Bassam Tibi Anlass sieht, Europa zu mahnen, seine Werte nicht aufzugeben im Zeichen der Toleranz gegenüber denjenigen, die sie ablehnen. Andererseits ist es auch befreiend. Und dass die Trennung von Kirche und Staat, Pluralismus, Demokratie, Freiheit und Gleichheit eine solche Ausstrahlung über Europa hinaus haben, dass Menschen deshalb zu uns kommen, müsste uns ein Antrieb sein, sie zu verteidigen.
Ein Buch wie dieses zu schreiben, erfordert Mut, vor allem wenn man wie Bassam Tibi die nahöstliche Kultur liebt; denn in der deutschen Schwarz-Weiß-Debatte gerät man leicht zwischen die Fronten. Dafür, dass er dieses Risiko auf sich nimmt, kann man dem Autor nur dankbar sein und seinen Büchern viele Leser wünschen.
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