Vom Kriegstreiber zum Friedensfürsten
Als im Oktober 1913 im elsässischen Zabern die latenten Spannungen zwischen Elsässern und Deutschen ein Monat lang in friedlichen Demonstrationen mündeten, kam es nicht zu einem Schusswechsel. Einzig und allein der preußische Leutnant Baron Günter von Forstner verletzte einen der Demonstranten aus Wut mit seinem Säbel. Dennoch wurde der Vorfall im Dezember im Berliner Reichstag debattiert und deutliche Empörung über das Vorgehen des Militärs machte sich breit. Es kam zwar zu keiner Bestrafung von Fordners, allerdings zeigt allein die Debatte im Reichstag, dass die Toleranzschwelle für Gewalt in Europa am Vorabend des ersten Weltkriegs offenbar ziemlich niedrig gewesen war. Wie ist dann der Gewaltausbruch des Ersten und erst recht das genozidale Massenmorden durch die Nationalsozialisten und ihren Verbündeten während dem Zweiten Weltkrieg zu erklären? Und wie ist es, berücksichtigt man diese Hinwendung zur Gewalt in der ersten Jahrhunderthälfte, zu erklären, dass sich Europa innerhalb der darauf folgenden fünfzig Jahre wieder komplett von der Gewalt abwendet? Dies sind die zentralen Fragen, denen der amerikanische Historiker James Sheehan in seinem aktuellen Buch "Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden" nachgeht.
Der Professor für Geschichte an der renommierten amerikanischen Universität Stanford hat in seinem Buch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts souverän verdichtet ausgewertet. Selten kann man derart kompakt und ökonomisch den Abstieg Europas in die Tiefen der Gewalt und die Befreiung daraus nachvollziehen, wie mit Sheehans 300-seitigem Werk. Eine entscheidende Rolle hat dabei der Militarismus gespielt. Während zum Ende des 19. Jahrhunderts Europa voller Uniformen und militärischer Symbole war, ist dies heute nicht mehr der Fall. Der Staat zieht sich in den europäischen Ländern ins Geheime zurück. Uniformen werden mit Zivilkleidung ausgetauscht, um unterzutauchen in der Masse. Die uniformierte Präsenz des Staates ist nicht mehr notwendig, kann man aus Sheehans Analyse schließen, denn "der europäische Staat der Gegenwart ist nicht vom Krieg, sondern vom Frieden gemacht."
Die Resultate der Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 standen ganz im Zeichen der Suche nach einer Möglichkeit, die Zerstörungskraft des Krieges zu zügeln. Allerdings verschwanden die Resultate von Den Haag recht bald "im Blut von Millionen" in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie Sheehan schreibt. Der europäische Militarismus und die Möglichkeit der Kriegführung wurden gemeinhin als Allheilmittel gegen "die Krankheit der Moderne" angesehen, d.h. gegen Unordnung, Zügellosigkeit und fehlende Züchtigkeit. Die Armee war zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Schule der Nation, in der Disziplin und Patriotismus gelehrt wurden. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs wurde daher von den Menschen in Europa geradezu euphorisch aufgenommen, Tausende zogen am 1. August 1914 auf die Straßen, um ihrer Freude über den Kriegsausbruch Ausdruck zu verleihen. Die Eskalation, die der erste Weltkrieg mit seinen Massenschlachten erfuhr, führt Sheehan auf die destruktive Politik der Großmächte zurück. "Es ist erstaunlich, wie die Politiker die Kriegsmaschine immer weiter mit den Körpern der eigenen Kinder führten, aber sie taten es mit grimmiger Entschlossenheit."
Zwischen den Kriegen habe es eine europäische Friedenshoffnung gegeben, die wohl am stärksten im Kellog-Briand-Pakt ihren Ausdruck gefunden hat, so der Historiker. Allerdings habe die gegen Deutschland entschiedene absolute Kriegsschuldfrage und damit verbunden das Versailler Vertragswerk ein deutsches "Trauma der Niederlage" geschaffen, in dem Sheehan den Ursprung der deutschen Verführbarkeit durch Adolf Hitler sieht. Die Hitler’sche Propaganda habe den traumatisierten Deutschen die Hoffnung auf eine nationale Wiedergeburt gegeben, die schließlich im Vernichtungsfeldzug gegen das europäische Judentum endete. Und hier betritt Sheehan mutig dünnes Eis. In der Vernichtung der europäischen Juden sieht er keineswegs ein streng deutsches, sondern vielmehr ein "europäisches Phänomen", wenn auch unzweifelhaft unter der Führung Nazi-Deutschlands. Darüber hinaus geht Sheehan mit der Politik der Alliierten hart ins Gericht, die zu lange gezögert hätten, um rigoros gegen Nazi-Deutschland vorzugehen. Die Politik des Friedens und der Beschwichtigung - die ihren traurigen Höhepunkt wohl im Münchener Abkommen 1938 gefunden hatte - ist fatal gescheitert und habe entscheidend zu dem dann Folgenden beigetragen, schreibt Sheehan in seinem Buch. In jedem Fall sei der Zweite Weltkrieg in allen Bereichen eine Steigerung zum Ersten. "Soviel Blut und Material der Erste Weltkrieg auch verschlungen hatte, der Zweite verschlang mehr - mehr Tote, mehr Ressourcen, mehr Maschinen."
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges trat Europa in ein geradezu neues Zeitalter ein. Und mit diesem dritten Teil beginnt Sheehans Buch leider schwammig zu werden. Man weiß nicht so genau, was er selbst von dem hält, was er konstatieren muss, nämlich von der Abwendung der Europäer von der Gewalt. Zunächst klingt es geradezu absurd, wenn Sheehan die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Zeitalter des Friedens begreift, berücksichtigt man das Diktat des Kalten Krieges. Und doch muss man Sheehan dahingehend zustimmen, dass es im Nachkriegseuropa bis zur Jugoslawienkrise zu keinem Kriegsausbruch mehr gekommen ist. Selbst die noch lange existierenden Diktaturen in Südeuropa brachen während der zweiten Welle der Demokratisierung in den siebziger Jahren ohne nennenswerte Auseinandersetzungen zusammen. Unter dem Mantel des Kalten Krieges herrschte eine Art eiskalter Frieden, der es den Menschen nichts desto trotz - und dies scheint der Historiker großzügig zu ignorieren - immer mal wieder eiskalt den Rücken hat hinunterlaufen lassen. Allein die gewaltsame Niederschlagung der Aufstände 1956 in Berlin und 1968 in Prag sowie die riskante Situation der Kuba-Krise 1962 sowie während der Solidarność-Proteste 1980 in Polen reichen hier aus, um dies deutlich zu machen.
Und dennoch, zwischen den Staaten in Europa blieb es beim kalten Frieden. Den Hauptgrund sieht Sheehan in der gegenseitigen Waffenkontrolle zwischen den USA und der Sowjetunion, die beide Mächte einer zwar feindseligen und konkurrierenden, aber den Frieden wahrenden Koexistenz verpflichtet hatte. Ohne den Schutz der USA, das macht Sheehan deutlich, wäre der Frieden in Europa nicht möglich gewesen. Ein europäischer Frieden also als verordnete Genesungspille der Amerikaner? Nein, das war es nicht allein. Die europäischen Staaten konzentrierten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend auf das Wirtschaftswachstum, die Technisierung und die soziale Modernisierung. Die Staatshaushalte wurden dementsprechend umgestellt, zivile Ausgaben erhielten die Präferenz und die Militärhaushalte der europäischen Staaten wurden auf ein Minimum reduziert.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat Europa schließlich von der Bedrohung eines doch noch ausbrechenden Krieges zwischen den beiden Blockmächten befreit. Zugleich eröffneten sich für die ehemaligen Sowjetrepubliken durch den Wegfall der russischen Vormachtstellung völlig neue und unzählige Möglichkeiten. Der Ausbruch der Krise auf dem Balkan war eine der möglichen und stellte das friedliche Europa für Sheehan vor eine geradezu unlösbare Aufgabe. Die Zivilisierung der europäischen Gesellschaften hat sich für den Historiker auf dem Balkan als größte Schwäche Europas erwiesen. Offenbar konnten sich die europäischen Staatschefs nicht mehr vorstellen, dass derart grausame Kriegskalkulationen vollzogen werden können.
Doch was heißt das alles für ein zusammenwachsendes Europa? Ist es nicht durchweg positiv, dass ein wirtschaftlich prosperierendes und zusammenwachsendes Europa von der militärischen Gewaltanwendung absieht? Sheehan ist da anderer Meinung. Auch wenn er es in seinem jüngsten Werk nicht so deutlich sagt, wie einst Robert Kagan, der vom mächtigen Mars Amerika und der ängstlichen Venus Europa sprach, aber Europa hat auch für den amerikanischen Historiker nicht das Potential einer Großmacht. Mit dem Verschwinden des Militärischen und dem bereits bestehenden Legitimationsdefizit der europäischen Politik fehle es den Europäern an Identität und einem standfesten Europäismus. Der innere Zusammenhalt sei noch ohne das Militärische vorstellbar, aber nach außen hin müsse man sich militärisch bekennen und sich eventuell auch zur Anwendung von Waffengewalt entscheiden. Doch wozu? Um sich als Europäer zu fühlen? Wohl kaum. Daher mag man am Ende des Buches ob diesem amerikanischen Dampfgeplauder "Schade" rufen und dieses Fazit am liebsten tilgen. Als gäbe es kein anderes Identität stiftendes Instrument, als das Militär und den Krieg. Wie hatte er doch einige Seiten zuvor noch so trefflich erkannt: "Der europäische Staat der Gegenwart ist nicht vom Krieg, sondern vom Frieden gemacht." Und genau darin liegt seine Chance. Gerade weil Europa nicht sofort mit seinen Säbeln rasselt, besitzt es schon heute eine höhere weltweite Glaubwürdigkeit und Akzeptanz, als man dies noch vor zehn Jahren erwarten konnte. Insofern ist es bedauerlich, dass Sheehan diese Schlussfolgerung am Ende seines Buches nicht ziehen konnte. So bleibt ein leicht betrüblicher Eindruck eines faktenreichen und hervorragend verdichteten Geschichtsbuches, das man eigentlich jedem Geschichtsinteressierten empfehlen möchte. Allein den anklingenden marsianischen Amerikanismus gilt es abzuziehen.
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