Hamsuns abgründigster Roman
"Er war ein Krieger, ein Krieger für die Menschheit und ein Verkünder des Evangeliums vom Recht für alle Völker. Er war eine reformatorische Gestalt von höchstem Rang, und es war sein historisches Schicksal, in einer Zeit der beispiellosen Rohheit wirken zu müssen, die ihn schließlich gefällt hat." Wer besagter Krieger war? Adolf Hitler! Und wer schrieb diesen Schwachsinn?
Immerhin meinte es der Verfasser jener Zeilen wirklich ernst. Anders als so mancher Opportunist, der sich nachträglich zum klammheimlichen Widerstandskämpfer erklärte, wollte sich Knut Hamsun keinen Vorteil verschaffen. Er veröffentlichte seinen Nachruf auf den Führer am 7. Mai 1945, einen Tag vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine Entschuldigung ist das nicht. Die Norweger gingen mit Hamsun hart ins Gericht - zu Recht. Seine Werke wurden aus den Bibliotheken verbannt, er selber bis ans Ende seines langen Lebens - Hamsun starb 92-jährig am 19. Februar 1952 - unter Hausarrest gestellt. Anschließend hätten sie ihn in seiner Heimat am liebsten totgeschwiegen.
Wären da nicht seine Bücher gewesen! Gleich das erste machte ihn berühmt, wenn auch erst mit Mitte Dreißig. In Hunger verarbeitete Hamsun seine bis dahin erfolglose Karriere als Autor und Journalist. Dann folgte sein Meisterwerk. Es beginnt wie folgt: "Um die Mitte des vorigen Sommers war eine kleine norwegische Küstenstadt der Schauplatz einiger höchst ungewöhnlicher Begebenheiten. Ein Fremder tauchte auf, ein gewisser Nagel, ein merkwürdiger und eigentümlicher Scharlatan, der eine Menge auffallender Dinge trieb und ebenso plötzlich wieder verschwand, wie er gekommen war."
Mysterien, so heißt der Roman, ist Knut Hamsuns abgründigster Roman. Der spätere Literatur-Nobelpreisträger verfasste die Geschichte Anfang der 1890er Jahre, ein halbes Jahrhundert vor Albert Camus' existenzialistischer Erzählung Der Fremde. Der Held von Mysterien ist Hamsuns alter ego Johan Nilsen Nagel: ein Bohemien, der die Menschen seiner Umgebung in ihren Bann zieht, um sie anschließend mit gleicher Leidenschaft rüde vor den Kopf zu stoßen. Die Lust an der Provokation, die Freude am Untergang, die Faszination des im Charakter des aufrechten Nagel schlummernden Bösen - das ist der Spiegel, den Hamsun seiner Leserschaft vorhält. Wie Camus' Anti-Held, der scheinbar völlig unmotiviert einen unbeteiligten Araber erschießt, scheitert auch Nagel am Leben, an der Gesellschaft, am eigenen Ich. Resignierend erkennt er: "Ich bin ein Fremder unter den Mitmenschen, und bald schlägt die Stunde."
Doch bis es so weit ist, bis Nagel "seiner Enttäuschungen, seiner vielen fehlgeschlagenen Hoffnungen, des Humbugs überall, dieses feinen, täglichen Betrugs vonseiten aller Menschen durchaus müde" ist, ärgert er seine Umgebung, rebelliert gegen die nur scheinbar braven Bürger, reißt manchem tugendhaft Daherkommenden die Maske des Gutmenschen vom Schädel, setzt sich für den einen oder anderen Außenseiter und Benachteiligten ein und verhilft ihnen, wie auch sich selbst, zu seltenen Augenblicken der Freude und Genugtuung. "Nach dem Eindruck zu urteilen, den dieses Buch beim Wiederlesen auf mich gemacht hat", schreibt der selber gern provozierende Schriftsteller Henry Miller über Mysterien, "könnte es scheinen, als hätte ich es nie zuvor gelesen; dennoch muss es das siebte oder achte Mal sein."
Tatsächlich gibt es in Hamsuns Buch immer wieder Neues zu entdecken. Allein die verschiedenen Rollen, in die der Protagonist gegenüber den drei anderen Hauptfiguren schlüpft! Nagel gibt, um nochmals Miller zu zitieren, nacheinander "den Clown, den Possenreißer, den Liebhaber, den Schwindler, den Vermittler, den Beschützer, den Scheindetektiv, den Intellektuellen, den Künstler, den Charmeur." Wenig überraschend, dass Mysterien bei solcher Vielfalt nie langweilig wird.
Den Nobelreis erhielt Hamsun für den literarisch weitaus anspruchsloseren Roman Segen der Erde, eine zwar prächtig geschilderte, aber doch recht vordergründige Lobeshymne an das naturnahe Leben eines norwegischen Bauern. Solche Geschichten liebten die deutschen Nationalsozialisten. Sie hofierten Hamsun, doch der Dickschädel ließ sich nicht ohne weiteres vereinnahmen. Wiederholt nutzte er seinen Einfluss, um sich nach der Besatzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht für inhaftierte Landsleute zu verwenden. Als das nichts mehr half, entschloss sich Hamsun, bei Hitler persönlich zu intervenieren und die Absetzung des Reichskommissars für Norwegen, Josef Terboven, zu fordern. Vergeblich. Von Hamsuns Besuch auf dem Obersalzberg am 26. Juni 1943 ist überliefert, dass sich die Kontrahenten minutenlang anbrüllten und Hitler noch Tage später irritiert über die Art und Weise war, wie mit ihm umgegangen wurde.
Bleibt die Frage, warum Hamsun den vermaledeiten Nachruf schrieb, ein Tag vor Ende des Krieges. Um ihn zumindest in Ansätzen zu verstehen, hilft ein zweites oder drittes Lesen von Mysterien. Einem ein halbes Jahrhundert später geborenen und real existierenden Johan Nilsen Nagel wäre eine Huldigung Hitlers durchaus zuzutrauen gewesen.
Mittlerweile scheint man in Norwegen Hamsun nicht mehr in ganz so negativem Licht zu sehen. In Oslo haben sie ihm zu Ehren ein Literaturhaus und Dokumentationszentrum errichtet. Die Diskussion um einen der begnadetsten Schriftsteller und ebenso eulenspiegelhaften wie donquichotteskesten Egomanen des 20. Jahrhunderts geht auch abseits der Hauptstadt weiter. Um Hamsun wird es so schnell nicht ruhig werden. Eigentlich muss man die Norweger darum beneiden.
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