Klassiker der Soziologie aus heutiger Sicht
Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat im vergangenen Jahr endlich das getan, worauf jeder Student der Soziologie in seinem Grundstudium hofft, doch bisher nur selten bekommt. Es hat renommierte deutsche Soziologen danach gefragt, wie angesichts der uns umgebenden postmodernen Verhältnisse mit den Klassikern der Soziologie umzugehen sei, ob und inwiefern deren Theorien und Ansichten überhaupt noch Relevanz besäßen. Im Rahmen der Vorlesungsreihe "InstitutsMontage" wurden einzelne Gesichtspunkte von insgesamt zehn Klassikern der Soziologie diskutiert. Acht der Vorträge sind nun in einer handlichen Kassette herausgegeben worden.
Von A wie Adorno bis W wie Weber - dies wäre ein hoher Anspruch und auch kaum in zehn Vorträgen zu leisten. So ist es nicht verwunderlich, dass einige wirkliche Klassiker der soziologischen Theorie fehlen. Schmerzlich vermisst hat der Autor zum Beispiel Herbert Spencer, dessen Theorie des Sozialdarwinismus in Anbetracht von Genmanipulation und Bioethik noch einmal neu debattiert werden sollte. Auch eine Relektüre von Norbert Elias soziologischen Arbeiten (z.B. "Über den Prozess der Zivilisation") könnte in der zunehmend komplexer werdenden Welt nicht schaden. Talcott Parsons theoretische Frage nach den Voraussetzungen sozialer Ordnungen und Pierre Bourdieus praxisorientierte Erkenntnisse sollten ebenso notwendig neu gelesen und interpretiert werden. Aber eine Vorlesungsreihe kann nun mal nicht ein ganzes Soziologiestudium umfassen und grundsätzlich ehrt das Vorhaben, sich überhaupt diese herausfordernde Frage "Wie weiter mit …?" zu stellen. Das Hamburger Vorhaben umfasste neben einer Neuauslegung der Theorien von Theodor W. Adorno und Max Weber außerdem moderne Ansätze zu Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud (zugegeben etwas ungewöhnlich für einen Kanon der Soziologie), Niklas Luhmann, Karl Marx, Carl von Clausewitz und Marc Bloch, wobei die Vorträge über die Erkenntnisse der beiden Letztgenannten nicht in der nun vorliegenden Kassette enthalten sind.
So regt Ulrich Bielefeld in seinem Weber-Essay u.a. an, Webers Erkenntnisse der Herrschaftssoziologie neu zu interpretieren. Überhaupt ungewöhnlich, den Grenzensetzer Weber neu auslegen zu wollen. Denn Weber wollte mit seiner Normierung aller Struktur doch lediglich das ideale Grundgerüst beschreiben, an dem man dann die Wirklichkeit - ob vor hundert Jahren, heute oder in hundert Jahren - nur abgleichen sollte. Realität war in Webers Sinne immer ein Abweichen vom Idealen. Doch dies genügt Bielefeld heute nicht mehr; und er überzeugt damit. In einer zunehmend komplexer werdenden Welt entstünden völlig neue Formen von Herrschaft und Recht, die nicht mehr ausschließlich an staatliche Akteure geknüpft werden können. Bandenkriege und Gewaltexzesse sind in diesem Verständnis unangenehme Begleiterscheinungen dieser Prozesse, da sie ein "Charisma der Gewalt" erzeugen, welches "durch die Auflösung moralischer Bindungen ermöglicht und durch die Gewalttat selbst dramatisch gesteigert wird", erläutert Bielefeld. Viel aktueller kann man die gegenwärtigen internationalen Konfliktdynamiken kaum in Weberschen Kategorien erfassen.
Die Geschichtsphilosophin Rahel Jaeggi regt in ihrem Aufsatz nicht nur eine Relektüre von Hannah Arendt an, sondern fordert zugleich, "mit Arendt" über Arendt hinauszugehen. Jaeggi reflektiert in ihrem Aufsatz Arendts Unterscheidung von dem Politischen und dem Gesellschaftlichen neu und überträgt diese Debatte auf die Soziale Frage unserer Zeit, die sich im Aufkommen "der Überflüssigen" in unseren Gesellschaften äußert. Zygmunt Baumann hatte diese Debatte des "verworfenen Lebens" vor einigen Jahren angestoßen und sie hat angesichts von Hartz IV (intern) und der nach Europa strömenden Massenmigration (extern) keineswegs an Brisanz verloren, wie Jaeggi zeigt.
Auch Adornos These der "Gesellschaft als Zwangszusammenhang" erscheint vor dem Hintergrund der Globalisierung geradezu hochaktuell. Ist es tatsächlich so, dass die Globalisierung die Menschheit in ein spezifisches Handlungsmuster zwingt, das darin besteht, Finanzmärkte umzustrukturieren, Arbeitsstandorte flexibel zu halten und immer dem Profit nachzuhecheln? Oder ist es vielmehr so, dass in dieser Annahme viel "Dogmatisches und Unüberprüftes" steckt, welches einer Untersuchung der Motive für ein solches Verhalten nicht standhalten würde? Nun, Adorno hätte wohl zumindest seine Zweifel an der Globalisierung als Zwangszusammenhang, schon aus soziologischem Prinzip heraus.
Auch wenn die in den verschiedenen Aufsätzen gegebenen Interpretationen nicht des Rätsels Lösung darstellen können, so haben sie doch eine längst überfällige Debatte angestimmt, der sich die Soziologie als Gesellschaftswissenschaft stellen muss. Die vorliegenden Bände geben einen ersten Eindruck, wie diese neue Debatte aussehen könnte, indem sie einige klassische Ansichten der soziologischen Theoriebildung an den aktuellen Fragen messen. Wer die gesellschaftlichen Zusammenhänge begreifen will, muss wissen, welche Fragen er an die Realität richten soll. Wer wie Faust zu erkennen sucht, "was die Welt im Innersten zusammenhält", greife zu diesen Bändchen, nicht weil er darin die Antworten finden wird, sondern weil sie neue und anregende Fragen zu einer Lösung des Faustischen Rätsels bieten, die im postmodernen Zeitalter relevant sein könnten. Insofern ist die Publikation dieser Veranstaltungsreihe nicht nur jedem Soziologiestudenten im Grundstudium ans Herz zu legen, aber diesen insbesondere. Praktischerweise passen die Bände in jede Hosentasche, so dass sie jederzeit hervorgezaubert werden können - kurz vorm Einnicken in der drögen Vorlesung, beim freundschaftlichen Philosophieren in der Mensa, auf dem Weg zur/von der Uni oder auf dem stillen Örtchen. Egal wo, es lohnt sich.
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