Genie und Wahnsinn
Kennen Sie Nikolaus Günther Nakszynski? Nein? Zumindest alle, die jemals einen der Krimis aus der "Edgar Wallace Reihe" gesehen haben, müsste dieser Mann ein Begriff sein, trägt er doch einen großen Anteil daran, dass diese Filme heutzutage unter Cineasten Kultstatus genießen. Allerdings trat er dort unter seinem Künstlernamen Klaus Kinski auf. Heute wäre der im November 1991 gestorbene Exzentriker 80 Jahre alt geworden. Neben seinen fast 200 Filmrollen unternahm er zahlreiche Vortragsreisen, bei denen er Werke der Weltliteratur vortrug, die teils von ihm neu übersetzt wurden wie die berühmt gewordene von Villons Texten, von denen der bekannteste wohl "Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund" sein dürfte. Anlässlich der Wiederkehr seines Geburtstags veröffentlicht Deutsche Grammophon Literatur die schon als Rarität gehandelte Sammlung "Kinski spricht Werke der Weltliteratur" neu.
Zu Lebzeiten wurde Klaus Kinski weit ambivalenter betrachtet als heute, 15 Jahre nach seinem Tod. Dies mag daran liegen, dass man sich heute mehr mit seinem Werk als mit der Person auseinandersetzt. Damalige Zeitzeugen beschreiben ihn als Egomanen, Choleriker, Berserker, der alles und jeden niederschrie, ordinär bis zur Obszönität, Erotomanen ja kurz gesagt als den Prototyp des Psychopathen. Heute blendet man seinen gesellschaftlichen Krawall weitestgehend aus und beschäftigt sich überwiegend mit ihm als Hauptdarsteller in Werner Herzogs Filmen sowie mit seinem Rezitationswerk. In seiner Biographie "Ich brauche Liebe" beschreibt er, wie seine Passion entstand: "Da ich es in München zu nichts bringe, muß ich zurück nach Berlin. Elsa schenkt mir zum Abschied "Die Balladen des Francois Villon". Ich lese sie im Reiseautobus. Als wir im Morgengrauen aus der Avus fahren, weiß ich: Villon, das bin ich! Im Café Melodie am Ku'damm spreche ich das erste Mal die Balladen des Francois Villon. Die Studenten der Kunsthochschule schreiben mit bunter Kreide in riesigen Lettern auf die Fahrbahnen des Kurfürstendamms KINSKI SPRICHT VILLON. Eintritt ist frei. Ich werde Geld mit der Mütze sammeln. "Café Melodie" ist so überfüllt, daß die Leute sich gegenseitig auf die Füße treten. Diejenigen, die keinen Einlaß finden, schlagen die Fensterscheiben ein, um gewaltsam einzudringen. Als sich ein Polizist einmischt, verdreschen sie ihn.
Ich steige auf den ersten besten Tisch und spreche, schreie, brülle, flüstere, hauche, keuche, weine, lache die Ballade des Francois Villon aus meiner Seele. Barfuß, in zerrissenem Pullover und mit Schiebermütze, in der ich nach jeder Ballade Geld einsammle. Sasha wirft mir einen Hundertmarkschein in die Mütze, andere von ein bis zwanzig Mark, arme Studenten fünfzig Pfennig oder einen Groschen, einer sogar seinen letzten Pfennig. In weniger als einer Viertelstunde habe ich die Mütze voll gesammelt.
(entnommen aus "Ich brauche Liebe, Heyne)"
Obwohl er sich selber als Ausnahmeerscheinung des Kulturbetriebes sieht, verwendet er bei seinen Bühnenauftritten Techniken der ganz großen Darsteller wie beispielsweise Gustav Gründgens rollendes "R" oder Gerd Westphals an Jazz-Terzen erinnernde Rezitation von Heinrich Heines Gedichten. Natürlich musste er auch dabei übertreiben und schrie, brüllte, tobte, geiferte auf der Bühne, war also mehr das, was man heute als "Aktionskünstler" bezeichnet, denn der konventionelle, gesittete, schon im Tonfall den Texten Hochachtung entgegenbringende Vortragende. Er selber sagt dazu: "Wenn ich einen Text sehe, weiß ich im ersten Augenblick, ob ich ihn spreche und wenn ich weiß, dass ich ihn spreche, weiß ich auch, wie ich ihn spreche... Ich kenne meine Stimme und meine Ausdruckskraft, deren Skala grenzenlos ist. Der Rest wird aus dem Instinkt, aus der Situation entstehen, aus dem Schock des erlebten Augenblicks."
Kinski steht mit seiner Sicht der Rezitation nicht alleine da; anders große Sprecher wie Gerd Westphal, Rolf Boysen, Christian Brückner, Ulrich Matthes, Eva Mattes und Sophie Rois, um nur einige zu nennen, rezitieren nicht nur, sondern interpretieren, ja spielen förmlich ihre Textvorlagen. Da viele klassische Texte der Weltliteratur in Aufnahmen unterschiedlichster Sprecher und Vortragsweisen vorliegen, hat heutzutage der interessierte Hörer die Möglichkeit, diese Vielfalt zu nutzen und gemäß seinem Gusto auszuwählen. Das Hörwerk "Kinski spricht Werke der Weltliteratur" gehört Rezitationsgeschichtlich zu den interessantesten, eben weil Kinski diese Werke auf sehr eigene, extreme doch auch interessante Weise interpretiert, die manchen Text in einem anderen Licht erscheinen lässt als die herkömmliche Vortragsweise oder Eigenlektüre. Gerade für Literaturwissenschaftler, Studenten und ambitionierte Hörbuchliebhaber bieten diese 20 CDs einen großen Fundus für vergleichende Studien.
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