Reales Leben in Worte gefasst
"Lieben" ist mein erstes Knausgård-Buch. Vermutlich ist es ja keine besonders gute Idee mit dem zweiten Roman (sein Vorläufer heisst "Sterben") eines auf sechs Bände angelegten Projekts zu beginnen, doch ich bin sofort drin in der Geschichte, denn da beschreibt einer das Leben, so wie es ist, in allen Details.
Das Buch handelt vom Leben zweier Erwachsener und drei kleiner Kinder. "Ihre Kindheit zu begleiten, verändert auch das Bild meiner eigenen Kindheit, nicht so sehr wegen der Qualität, sondern wegen der Quantität, der vielen Zeit, die man mit seinen Kindern verbringt, die schier unermesslich ist. So viele Stunden, so viele Tage, so unendlich viele Situationen, die sich ergeben und durchlebt werden. Aus meiner eigenen Kindheit sind mir nur eine Handvoll Episoden im Gedächtnis geblieben, die ich alle als bahnbrechend und bedeutsam empfand, obwohl sie eigentlich, wie ich heute erkenne, in einem Meer anderer Geschichten schwammen, was ihren Sinn gänzlich auslöscht, denn woher will ich eigentlich wissen, dass ausgerechnet diese Ereignisse, die sich mir eingebrannt haben, entscheidend waren und nicht all die anderen, über die ich nicht das Geringste weiss."
Und weil man nicht wissen kann, was entscheidend ist oder werden könnte, schreibt man so viel auf, wie nur geht. Und genau das macht Knausgårds Schreiben aus: dass er versucht, den Fluss des Lebens wirklich werden zu lassen. Indem er ihn in Worte fasst. Dass sein Unterfangen gelingt, ist auch deswegen erstaunlich, weil es etwas Artifizielleres als Worte so recht eigentlich gar nicht geben kann. Man also nur staunen kann, dass mit Künstlichem (zusammengesetzten Buchstaben, die es in der Natur nicht gibt) die Realität (das Leben im Fluss) hergestellt werden kann.
Karl Ove Knausgård guckt hin und denkt selber. Und das ist rar und keineswegs die Regel. Seine Kinder, so stellt er fest, strahlen alle ein ganz bestimmtes Gefühl aus. Seit den allerersten Tagen. Ihre Charakterzüge zeigten sich andeutungsweise bereits nach ein paar Wochen und sie "sind ähnlich unverändert geblieben." Das ist sehr berührend, und sehr weise, wie er Aristoteles' Satz, der Charakter sei dem Menschen Schicksal, am Beispiel seiner Kinder darlegt.
So recht eigentlich macht Knausgård nichts anderes als seinen Alltag als Norweger, Ehemann, Vater und Schriftsteller in Stockholm zu beschreiben und weckt dabei ungeheuer intensive Gefühle in mir, die mir wieder einmal zu Bewusstsein bringen, dass es nicht Faszinierenderes gibt als das Alltägliche. Jedenfalls für den, der es wahrzunehmen weiss. Und Knausgård tut es.
Eine Stunde pro Tag gehört dem Lesen. Dafür geht er in ein Café. Doch nicht zu oft in das gleiche, weil er nicht als Stammkunde behandelt werden will. "Der entscheidende Vorteil daran, in einer Grossstadt zu leben, bestand für mich jedoch darin, dass ich in ihr vollkommen allein sein konnte, während ich gleichzeitig überall von Menschen umgeben war."
Er liest Dostojewski und fühlt sich in dessen Welt unwohl. Es gehe bei ihm immer um das Drama und die Tiefe der Seele, "was bedeutet, dass er immer einen Aspekt des Menschlichen ausser Acht lässt, und zwar das, was uns mit allem ausserhalb von uns verbindet." Eine clevere Beobachtung. Auch weist er darauf hin - da wäre ich wohl ebenfalls nicht drauf gekommen - , dass im Gegensatz dazu viele Darlegungen Tolstois, nichts anderes sind und sein wollen, als sachkundige Dokumentationen etwa einer Landschaft oder von Sitten und Gebräuchen.
Mir bedeutet "Lieben" viel, ich lese es ganz langsam und gerne. Das liegt wesentlich daran, dass Knausgård sich ganz viele Gedanken über Gott und die Welt macht, die auch mich beschäftigen. Und dabei Überlegungen zum Alltag, zur Literatur, zur Moral oder Philosophie umstandslos ineinander übergehen, ganz so wie im richtigen Leben.
Sie schreibe, hat die australische Autorin Robyn Davidson einmal in einem Interview gesagt, um das Leben irgendwie wirklich werden zu lassen. Und genau das ist es, was ich beim Lesen von "Lieben" empfinde: dass das, was hier beschrieben wird, die Wirklichkeit ist. Und viel spannender, anregender und aufregender als jede Fiktion.
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