Ein philosophischer Grenzgänger – Karl Jaspers als Briefschreiber
Unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts gehörte Karl Jaspers, 1883 in Oldenburg geboren, 1969 in Basel verstorben, zu den Ausnahmeerscheinungen. Der Naturwissenschaftler – studierter Mediziner – verfasste ein bis heute beachtetes Werk, die 1913 veröffentlichte "Allgemeine Psychopathologie". Er bekannte sich aber schließlich zur Philosophie. Die Gestalt und das Werk von Max Weber beeindruckten ihn sehr. Kontroversen an der Universität ergaben sich bald. Der Außenseiter Jaspers dachte eigenständig. Er provozierte Auseinandersetzungen, erlebte auch die sprungbereite Feindseligkeit von etablierten Fachkollegen wie Heinrich Rickert. Der Philosoph Jaspers lehrte schließlich in Heidelberg und musste sich nach Hitlers Machtergreifung aus der Universität zurückziehen. Jaspers arbeitete verborgen vor der Welt weiter, schrieb Bücher und Briefe. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg folgte er einem Ruf an die Universität Basel. Der streitbare Denker hielt zudem Radiovorträge und verfasste politische Aufsätze. Seine einführend gehaltenen Bände in die Philosophie fanden Interesse und wurden in viele Sprachen übersetzt. Auch die Popularität trug ihm neue Gegner ein. Jaspers publizierte einfach weiter. Vor kurzem wurden aus den etwa 25'000 Briefen des Nachlasses drei umfangreiche Bände, versehen mit sorgfältigen Erläuterungen, herausgegeben – eine echte philosophische Neuentdeckung liegt somit vor.
Der Herausgeber Dominic Kaegi charakterisiert Jaspers' Briefstil als "unspektakulär und ambitionslos, manchmal nachlässig und schroff bis zur Brüskierung". Manche Korrespondenzen würden abrupt abbrechen. Geschmeidig formulierte Jaspers nicht. Er wertschätzte die geistige Konfrontation. Differenzen benannte er ohne Umschweife. Dieser Philosoph passte nicht zu den anderen Philosophen: "Ein Fachphilosoph war er nicht, und ein Berufsphilosoph wollte er nicht werden."
So unterschied der Mediziner Jaspers die strengen Wissenschaften von der Philosophie. An seinen Basler Kollegen Heinrich Barth schreibt er zum 60. Geburtstag. Er betont, "wie gern ich als College neben Ihnen lebe". Der Philosoph erwähnt den Vorzug, "dass wir auch dort, wo wir nicht völlig in unserer Meinung coinicidieren, uns zu verständigen wissen". Jaspers sucht, trotz seiner krankheitsbedingt eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, stets den persönlichen Austausch: "Worunter ich etwas leide, das ist die mangelnde Gelegenheit zum philosophischen Gespräche. Allein es ist ebenso: Die Philosophie hat wenigstens hier in Basel eine isolierende Wirkung." Er spreche, von Ausnahmen wie Gerhard Krüger abgesehen, "im Geisterreich mit den Gestalten der Geschichte". Aus diesen Reflexionen etwa entstehen umfangreiche Schriften. Karl Jaspers philosophiert mit Platon, Kant und Nietzsche, beschäftigt sich mit Sokrates, Jesus und Konfuzius. Er sucht Anregungen und findet Anknüpfungspunkte. Wer seine Werke heute studiert, gewinnt zuweilen den Eindruck, als hätte Jaspers mit Zeitgenossen gesprochen. Die Gestalten der Philosophiegeschichte wirken, als seien sie gegenwärtig – dies ist auch einem spezifisch existenzphilosophischen Zugang geschuldet. Karl Jaspers liest historische Werke resonanzvoll. Er äußert sich auch polemisch und möchte zu einem eigenständigen Philosophieren anleiten. Immer wieder, ob im brieflichen Austausch mit Heinrich Barth oder anderen, weist Jaspers Machtverhältnisse, wie sie in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis bestehen können, als unphilosophisch ab: "Das Philosophiestudium ist, wie mir scheint, ganz besonders auf das eigene Tun des Studenten angewiesen." Er hält es für notwendig, stets die "eigenen Interessen" zurückzunehmen und die "Lernfreiheit der Studenten" zu schützen. Weder die Universität noch ein Professor habe vorzuschreiben, "wie ein Student, zumal der Philosophie, seine Studien treibt, wen er hört, was er im Hauptstudium aus der Geschichte wählt, usw., das muss ganz und gar ihm überlassen bleiben". Karl Jaspers suchte keine Gefolgsleute und anerkannte auch Opponenten. Niemand könne allein die "Aufgaben der Philosophie" in seiner Zeit vollständig erfüllen. Eine Pluralität der Zugangsweisen schien ihm wünschenswert zu sein. Nur durch die Verschiedenheit im Verständnis und in der Ausübung der Philosophie könne die "Luft des geistigen Atmens entstehen, die wir heute oft so sehr entbehren". Einen ganz anderen Weg als Jaspers hatte Ernst Bloch gewählt. Zu sagen hatten sich die beiden Philosophen eher wenig. Im Jahr 1963 wechseln Bloch und Jaspers dennoch Briefe. Das wechselseitige Verständnis bleibt aber aus. Jaspers nennt Bloch einen "Beschimpfer". Zugleich hegt er aber "Vergnügen an geistreichen Aspekten und Einfällen" in dessen Werken. Er bemerkt hellsichtig: "Ich fürchte, dass wir beide, nun wir alt geworden sind, es schwer hätten, miteinander sachlich und ernst zu sprechen. … In dieser wunderlichen Welt dürfen wir gegenseitig Humor genug haben, uns freundlich am Leben des anderen zu freuen, wenn er nicht im Dienste einer totalitären Macht steht, die uns umbringen will." Bloch widerspricht nicht.
Wie kaum ein zweiter Philosoph kannte und durchdachte Karl Jaspers nicht nur die Grenzsituationen des menschlichen Daseins, sondern auch die Grenzen der Philosophie überhaupt: "Ein Philosoph steht vor einer Aufgabe, die er nicht ohne weiteres durch Philosophie allein lösen kann." Von der "Professoren-Philosophie" hält er nichts. Diese sei einer der "Nägel zum Sarge des deutschen Geistes". Auch den schulmeisterlichen Ton in der Philosophie missbilligt er. Solche Schulmeister seien ein "Gegenstand des Vergnügens", aber ernst nehmen könne er sie nicht: "Man soll keine Zeit mit ihnen verlieren, denn das Leben ist kurz und verträgt keine Vergeudung an Nichtigkeiten, sondern nur Verschwendung an das Geliebte." Auch um "Nachbeter" müsse sich niemand bemühen. Philosophie erfordere Ernsthaftigkeit und sei "mehr als Wissenschaft", jedenfalls dann, "wenn Wissenschaft ausgezeichnet ist durch zwingende Methode, klare Voraussetzungen, Allgemeingültigkeit und dementsprechend durch faktische Verbreitung und Annahme durch alle Menschen auf der Erde, die sich mit ihr beschäftigen". Die "Selbstständigkeit der Philosophie" müsse aufrechterhalten werden, auch wenn das fast unmöglich sei. An Gerhard Krüger schreibt Jaspers am 22. September 1951: "Ihr Sohn will Mathematik und Physik studieren, also nicht Philosophie. Das ist sehr vernünftig." In dem Sinne gedacht: Es gibt auch keinerlei innere Verpflichtung, dass sich ein jeder unbedingt für Philosophie interessieren müsse.
Nicht nur politische Themen beschäftigen Karl Jaspers zunehmend, auch die Frage nach dem Glauben stellt sich neu. Frühzeitig beschäftigt er sich mit Rudolf Bultmanns Schriften und weist dessen existenzialistische Deutung des Neuen Testaments entschieden zurück. An Johannes Kampffmeyer schreibt er, Bultmanns Abhandlungen seien "interessant", führten aber zur "Aufhebung des specifischen Glaubens an Christus". Der Zugang sei "anregend" als "Zeiterscheinung", aber "fruchtlos für die Gestaltung des christlichen Glaubens". An Bultmann adressiert sind die folgenden Zeilen: "Da Sie weitgehend philosophisch reden und eine bestimmte Auffassung von Philosophie haben, die mir für die Philosophie tödlich erscheint, habe ich das geschrieben. … Mein Irren ist vielleicht nicht geringer als das, was ich in Ihren theologischen Äußerungen zu sehen meine. Doch scheint es recht, auszusprechen, wovon man sich überzeugt hat. Es handelt sich nicht mehr um Wissenschaft, sondern um das philosophische Ringen, das die Wahrheit selbst ins Auge fassen möchte." Die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen hält an, vertieft sich. Jaspers bleibt zeitlebens Protestant, zumindest gehört er der evangelisch-lutherischen Kirche bis zum Tod an. Er hegt, wie er Lieselotte Richter schreibt, Sympathien für den Glauben, jedenfalls wenn dieser nicht als "Intoleranz" und "allgemeingültige Ausschließlichkeit" auftrete. Er wolle zwar ebenso wenig "zum christlichen Glauben zurückgebracht" werden als "aus der Kirche austreten, in die ich geboren bin". Indessen könne er "Menschen wie Luther und Calvin, trotz Interesse allein an ihrem Geist, nur als böse, verabscheuungswürdige Wesen sehen".
Karl Jaspers dachte über einen philosophischen Glauben nach, der im Einklang mit der Vernunft stehe und bestehen könne. Ein solcher Glaube lasse sich zwar "nicht objektiv aussprechen", könne aber das fragile Leben vielleicht doch tragen. Er versichert, dass diese "meine Hoffnung bleibt". Das Verständnis der Jaspersschen Philosophie wird durch diesen Band gewiss erweitert und bereichert. Insbesondere in einer verschulten Universitätswelt zeigt das Beispiel des Gelehrten, dass die Lektüre im stillen Kämmerlein – damals wie heute – Möglichkeiten bietet, philosophisch denken zu lernen. Grenzgänger wie Karl Jaspers können die Philosophie sehr bereichern. Solche Persönlichkeiten werden auch heute dringend gebraucht.
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