Gewalt und Kälte
"Cholod. Weil es kalt ist", heißt es an einer Stelle von Twardochs Roman, der zwar nach dem Großen Krieg spielt, aber dennoch mitten im Krieg geschrieben wurde. Nach Cholod in die Taiga verschlägt es seinen Protagonisten und Erzähler Konrad Widuch, dessen Tagebuch dem Autor auf einer Seefahrt in die Hände fällt. Im Roman kommt der Autor selbst nämlich auch vor, seine Familiengeschichte bildet die Klammer des Erzählrahmens.
Das Feuer der Revolution
Der erste Teil der Tagebuchaufzeichnungen des ehemaligen Bolschewiken liest sich spannend wie ein Kapitel der Russischen Revolution. Konrad Widuch kämpfte erst in der Reiterarmee der Roten, um dann, unter Stalins Herrschaft, alles zu verlieren: seinen Glauben an die Revolution und die Sowjetunion, seine junge Familie, die Zukunft. Er sucht sein Heil in der Flucht und landet in der russischen Taiga, einer atemberaubend schönen, aber auch sehr gefährlichen Welt. Durch einen Ausbruchsversuch dreier Mithäftlinge entledigt sich Widuch geschickt nicht nur der Aufseher, sondern auch seiner Kollegen, die ihn ohnehin nur als zweibeinige Speisekammer mitgenommen hätten. Denn in der eisigen Kälte Sibiriens ist Nahrung knapp und nur eine dünne Eisschicht vom Kannibalismus entfernt. Als das Blatt sich wendet, verschont er den Mithäftling Gabaizde aber. Dafür verliert dieser das Augenlicht und die Hände. In genau so einer indignierenden Situation lernt er auch seine künftige Begleiterin Ljubow kennen, die gerade den Fuß einer Frau auf einem Feuer brät. Was sich erst wie eine klassische "Fargo"-Posse liest, wird bald zu bitterem Ernst. Auch einer entsprechend rauen und vulgären Sprache lässt es Twardoch seinen Protagonisten nicht mangeln. Schließlich sind es harte Zeiten und überleben werden nur die, die Zweckbündnisse schmieden können. Und so fliehen Ljubow, Gabaizde und Widuch gemeinsam in ein ungewisses Schicksal, das sie mitten in die Dorfgemeinschaft eines alten Volkes führt.
Die Kälte des hohen Nordens
Ebenso grausam behandelt Widuch seinen ehemaligen Aufseher Gabaidze, dem er beide Hände abschlägt und auf seiner Flucht mitzerrt. Vielleicht ebenso als Essensvorrat, vielleicht auch nicht. Dass dieser sich selbst die Augen ausgestochen hat, glaubt ihm Ljubow nicht, aber das ist nicht das einzige, was so unwahrscheinlich wie möglich erscheint. Im wilden Osten ist alles möglich. Das zeigt umso präziser der zweite Teil der Aufzeichnungen von Widuch, in dem die drei traurigen Gestalten bei den Ljaudis, einem archaischen Volk der Steppe, leben. Diese zeigen ihnen, wie man im ewigen Eis überleben kann und lassen sie an ihren Ritualen teilhaben. Gabaidze machen sie gar zum Schamanen, denn ein Mann ohne Hände und Augen, das kann nur ein Mensch sein, der mit den Göttern in Kontakt steht. Dabei helfen u. a. exotische Pilze und Vodka, denn diese Währung ist auch im Nichts gültig. Aber auch Sex lässt sich gut für Tauschgeschäfte und Machtgewinn einsetzen und das macht sich besonders die wenig zimperliche Begleiterin Widuchs, Ljubow zunutze.
Bei seiner Recherche hat Szczepan Twardoch nicht nur die Sprache der Völker der Taiga wiederentdeckt, sondern auch die Völker selbst, die alle ein gemeinsames Schicksal teilen. Ljaudis, Tschuktschen, Jugakiren, Pomoren, u. v. a. m. wurden durch die russische Oktoberrevolution der Zentralmacht in Moskau unterworfen und ausradiert, so denkt Widuch, wenn er sein Klagelied gegen Russland anstimmt, um den Mord an zwei russischen Forschern durch Ljubow zu entschuldigen. Aber Gabaidze entgegnet: "Wenn Russland schon einmal hier war, wird es auch ein zweites Mal kommen. Kein Grund zur Aufregung, öffnet lieber die Tore und wartet, empfangt es mit offenen Armen. Ihr könnt nämlich sowieso nichts tun." Ein Roman, der uns tief in die Vergangenheit und in die Kälte des hohen Nordens führt, aber auch ein Roman vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges, mit der inhärenten Bitte, keinen Schritt zurückzuweichen.
Szczepan Twardoch, geboren 1979, wurde für seinen Roman "Morphin" (2012) mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, der zuletzt ebenfalls bei Rowohlt erschienene Roman "Drach" erhielt mit seinem Übersetzer Olaf Kühl 2016 den Brücke-Berlin-Preis. 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Weitere Romane sind ebenfalls bei Rowohlt erschienen. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.
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