Neugierig auf die ganze Welt
"Das Leben ist der Ernstfall" heisst das neue Buch des 1937 im niedersächsischen Celle geborenen Jürgen Leinemann, der fünfunddreissig Jahre für den "Spiegel" geschrieben hat und heute von vielen Journalistenkollegen (weiblich wie männlich) als 'grosser Reporter' (Evelyn Roll in der 'SZ') und als 'einer der profiliertesten und bekanntesten Verfasser von Politikerporträts, Reportagen und Essays' (Wilfried Mommert in 'Die Berliner Literaturkritik') charakterisiert wird.
Ich selber habe Jürgen Leinemann vor über zwanzig Jahren kennengelernt. Ich arbeitete damals als Herausgeber einer Journalismus-Buchreihe beim Schweizer Verlagshaus in Zürich und hatte ihn angefragt, ob er ein Buch mit mir machen wolle, das einerseits ein Buch zum Wahljahr 1990 werden und andererseits ihn selber, durch eine Auswahl seiner Artikel, als Autor porträtieren sollte. Er sagte zu, schickte mir seine Arbeiten und ich begann mich mit diesen auseinanderzusetzen und lernte dabei einiges: über die Mechanismen der Politik, über die Selbstinszenierungen der politischen Akteure und über Jürgen Leinemann, der mir sympathisch war.
Warum erzähle ich das alles? Um klarzumachen, dass ich "Das Leben ist der Ernstfall" positiv gestimmt angegangen bin. Ganz so also, wie Bücher generell angegangen werden sollten. Und um es gleich vorwegzunehmen: die Lektüre lohnt, denn da setzt sich einer intensiv - also fragend, analysierend und obsessiv - mit seinem Leben auseinander, und da dieser Mann einiges erlebt hat und zu erzählen weiss, erfährt man viel Spannendes, Anregendes und Lehrreiches. Auffallend dabei ist vor allem, wie ungeheuer selbst-analytisch das Schreiben des Autors geprägt ist: was er bei anderen (vor allem den Politikern) bemerkt, kennt er meist von sich selber (die Sucht nach Anerkennung, zum Beispiel), doch zwischen Leinemann und den von ihm Porträtierten, gibt es einen gewaltigen Unterschied: Leinemann stellt sich seinen Süchten, setzt sich mit ihnen auseinander - und das ist eindrücklich, und selten, und weit entfernt von einer psychologischen Nabelschau, denn dafür ist der Mann viel zu sehr Reporter und das meint: neugierig auf die ganze Welt, nicht nur seine eigene.
Leinemann ist einer, der genau hinschaut. Nicht nur bei anderen, auch bei sich selber. Und der deshalb über den ehemaligen CSU-Chef Strauss, der doch immer als Inbegriff vorwärtsstürmender bayerischer Urwüchsigkeit (als er einmal in einem Wahlkampf gefragt wurde, ob er sich nicht vor seinem schwergewichtigen SPD-Herausforderer Hirsemann fürchte, erwiderte er: Solange der sich net auf mich drauflegt ...) beschrieben wurde, klar stellen konnte: "Er marschiert ja auch nicht, wie das Klischee weismachen will, walzt oder schiebt sich schon gar nicht vorwärts. Vielmehr hastet er in weicher Eile, verfällt fast ständig in einen unprägnanten Trippeltrab. Sein Gang hat kein Gewicht."
"Das Leben ist der Ernstfall" ist nicht nur ein genialer Titel, er beschreibt auch treffend, wovon in diesem Werk die Rede ist: Jürgen Leinemanns Leben. Und dieses besteht vor allem aus Arbeit und dem Streben nach sozialer Anerkennung, die diese bringen soll und über die er sich denn auch wesentlich (doch nicht ausschliesslich, wenn auch in stärkerem Ausmass als ihm offenbar lieb ist) definiert. Und dann, am Ende seines Arbeitslebens, die Diagnose Zungenkrebs.
Von dieser Krankheit (und weiteren Krankheiten) und wie sie den Kranken entmündigt ("Krankheit is Kränkung, tiefe existenzielle Erniedrigung"), handelt dieses aufwühlende Werk hauptsächlich, doch es geht weit darüber hinaus und ist so recht eigentlich die Beschreibung eines erfolgreichen Journalistenlebens, in dem auch das Persönliche, Private und Familiäre für einmal nicht zu kurz kommt. Zur Illustration hier ein paar Ausschnitte:
"In den vierzig Jahren im politischen Betrieb hatte ich oft genug gesehen, wie schwer sich die Politiker damit taten, Positionen aufzugeben, die ihnen Macht und Bedeutung zu sichern schienen. Ich erlebte das als süchtiges Verhalten, das ich als 'Höhenrausch' in einem Buch beschrieb. Meine These - die ich aus eigenem Suchtverhalten ableitete - wurde öffentlich heftig diskutiert. Nun beginne ich zu ahnen, dass die Suchtphase auch bei mir noch nicht zu Ende ist. Ein tiefes Unbehagen über uneingestandene Halbheiten bedrückt mich.
Der Schmerz sei der Stachel, der uns immer aufs Neue zum Nachdenken über das gesamte Leben nötige, schreibt der Philosoph. Aber in Wahrheit erlebe ich nicht Schmerzen als grösste Herausforderung - die kann die moderne Medizin zumindest weitgehend eindämmen - , sondern die Kränkung des Nicht-mehr-Mitspielen-Könnens, die Fülle von Miseren wie Halsentzündung und Brechreiz, Verschleimung und Mundtrockenheit, Geschmacksunfähigkeit und Schluckbeschwerden - sowie Ohnmacht, Ohnmacht, Ohnmacht.
Mit Macht drängt es mich an die Arbeit. Die lenkt ab. Erst jetzt glaube ich Schäuble richtig zu verstehen, der nach dem Attentat an der Politik festgehalten hat. Arbeit ist nicht nur eine Droge, sondern in diesem Fall Medizin.
Ich wusste es damals noch nicht, aber mehr und mehr war ich unter dem täglichen Rivalitäts- und Erfolgsdruck den politischen Karrieristen der Nixon-Administration ähnlich geworden, über die ich mit kaum verhohlenem Abscheu Woche für Woche schrieb. Ich telite ihren unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung. Denn wie sie sah ich mich nicht nur auf der Erfolgsleiter, sondern zugleich auf der Flucht vor einer immer bedrängender werdenden Realität aus Selbstzweifeln, Furcht vor dem Scheitern und quälenden Fragen nach dem persönlichen Preis für die Karriere.
Meine Zweifel an irgendeinem Sinn des Lebens waren gewachsen, und meine Weisheit, zu unterscheiden, was ich ändern könnte und was ich als unabänderlich betrachten müsste, hielt sich - gelinde gesagt - in Grenzen. Häufig war ich ratlos, verzweifelt und zornig.
In Gesundheitsfabriken wie der, in der ich jetzt lag, wurden Krankeiten behandelt, nicht Kranke. Der Mensch zählte nur als Symptomträger, sonst störte er ... Täglich karrten sie mich von einer Station zur anderen, stellten mich ab wie eine Warenlieferung oder sammelten mich grusslos wieder ein. "Die waren nicht bewusst grausam", befand meine Tochter Susanne, die mich häufig begleitete, "die waren Gefangene des Betriebs."
Das ist Aufklärung, wie ich sie mir wünsche: Den Mut haben, selber zu denken und zu zeigen, wo man selber steht. Zusammenhänge aufzeigen, die Dinge einordnen, subjektiv und gleichzeitig um Objektivität bemüht. Dass sich der mit journalistischen Ehren überhäufte Jürgen Leinemann dabei nicht scheut, sich auch mit seinen Schwächen zu zeigen, ist seine grösste Stärke.
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